Im letzten Sommer verstarb der alte Wellershoff. Er lag im Schlafzimmer, die Arme über der Decke wie Stöcke, das kahle Haupt schweißglänzend, und er starrte auf die andere Decke, jene über ihm. Wolf, am Bett seines Vaters sitzend, betrachtete den alten Herrn, der bereits zur Hälfte entschwunden war, da der Tod in Gestalt multipler Tumoren an ihm kaute.
Seit Tagen sprach der alte Wellershoff nicht mehr, halb dem Morphin, halb seinen Erinnerungen ergeben, die durch sein von Metastasen getrübtes Bewusstsein mäanderten. Kaum noch war er ansprechbar, und nur noch gelegentlich kehrte er aus den Schemen seines Lebens zurück. So wie jetzt, als er sich plötzlich im Bett aufrichtete und verkündete:
„Sohn, wenn es soweit ist, soll man eine Nylonstrumpfhose in meinen Sarg legen.“
„Wie bitte?“
„Man soll eine Nylonstrumpfhose in den Sarg legen.“
„Warum?“
Wolfs Vater sank in seine Kissen zurück:
„Du musst nicht alles wissen, Sohn.“
„Vater, ist es … ?“
„Versuche es gar nicht erst.“
„Bei allem Respekt, Vater, warst du heimlich ein Transvestit?“
„Frage nicht weiter. Und auf keinen Fall wirst du ein Wort gegenüber deiner Mutter darüber verlieren. Es ist unser Geheimnis. Versprichst du es?“
„Ja, ich verspreche es.“
„Gut. Jetzt gib’ mir einen Kuss und dann lass mich schlafen.“
In der Nacht starb der alte Wellershoff. Alsbald besuchte ein Bestatter Witwe und Wolf. Wolf nahm den Mann beiseite und klärte ihn über den Wunsch des Vaters auf, der an der Witwe vorbei zu erfüllen sei. Der Bestatter reagierte gleichmütig:
„Eine Nylonstrumpfhose, das ist alles? Soll ich sie ihm gleich anziehen?“
„Nein, sie soll nur in den Sarg gelegt werden.“
Der alte Wellershoff wurde beigesetzt. Während der Aussegnung stellte Wolf sich vor, wie sich das Holz des Sarges den Maden, Larven und Asseln hingäbe, die ihre Fraßgänge in die Maserung trieben, immer tiefer hinein bis zu den textilen Stoffen, durch das mit Körperflüssigkeiten getränkte Doppelkrepp und das angetackerte Baumwollleinen hindurch, alles Fleischliche verstoffwechselnd, um schließlich verdutzt an der Unverdaulichkeit einer Strumpfhose aus Kunstfaser zu scheitern; und während das Gewimmel im Erdtiefen nicht nach Erklärungen suchte, fragte Wolf sich mehr denn je, warum in des Schöpfers Namen eine Strumpfhose im Sarg liegen sollte.
Ein Freund namens Eugen, Endokrinologe mit einem Faible fürs dramatische Fach, brachte ihn auf eine Spur:
„Es ist offensichtlich, dein Vater ist ein verhinderter Citizen Kane. Ein schwärmerischer Hedonist, ein Jäger auf der Pirsch nach dem Glück in elysischen Feldern.“
„Wer ist Citizen Kane?“
„Citizen Kane ist ein Film aus der Schwarzweißblüte Hollywoods. Foster Kane, reichster Mann der Welt, Magnat aller Magnaten, stirbt in seinem Schloss Xanadu, und im Moment des Ablebens flüstert er, während ihm aus greiser Hand eine Schneekugel entfällt und in Myriaden von Splittern zerbirst, ein letztes Wort: Rosebud. Ein Reporter sucht bis zum Ende des Films vergebens nach der Bedeutung des Wortes.“
„Also bleibt Rosebud ein Geheimnis?“
„Nein, der Zuschauer erfährt es in der letzten Sequenz. Die Besitztümer Kanes – Möbel, Teppiche, Bücher, Gemälde – zusammengetragen in einer gewaltigen Halle, werden von Arbeitern in einem Ofen verbrannt. Schließlich wird der Kinderschlitten Foster Kanes in das Feuer geworfen, und im Züngeln der Flammen wird der Name des Schlittens sichtbar. Rosebud – die Erinnerung an einen traumatischen Wintertag in der Kindheit Foster Kanes, ein Tag, an dem ihn seine Mutter verließ.“
„Und du denkst, dass die Strumpfhose meines Vaters die gleiche Bedeutung hat?“
„Eine ähnliche. Ich vermute, dass bei Foster Kane ein Schub des Oxytozins, ein Neuropeptid aus der Gruppe der Proteohormone, ursächlich war, welches die Bindung zwischen Mutter und Kind prägt. Bei deinem Vater könnte es sexuell konnotiert sein, die Reminiszenz an einen ekstatischen Dopamincocktail, dessen Zuckerrand aus Testosteron bestand.“
„Was empfiehlst du?“
„Suche nach dem Rosebud deines Vaters. Die Strumpfhose war für deinen alten Herrn von Bedeutung, weil sie ihn an die unerfüllt erfüllteste Zeit seines Lebens erinnerte.“
„Aber warum braucht er sie im Sarg?“
„Wer weiß das schon? Wollte er vorbereitet sein auf das Kommende? Vielleicht dachte er gar an eine holde Ophelia, wie im Hamlet? Wir wissen wohl, was wir sind, aber nicht, was wir werden können – so ihre Worte.“
In den nächsten Tagen und Wochen versuchte Wolf auf alle erdenklichen Weisen, das Rätsel zu ergründen. Er befragte die Mutter, löcherte ergraute Weggefährten, recherchierte nach Liebschaften, stöberte in Briefen, durchforstete vergilbte Notizbücher. Doch die Nylonstrumpfhose des alten Wellershoff blieb ein Mysterium.
Nach Monaten der vergeblichen Suche stellte Wolf resignierend gegenüber Eugen fest:
„Er wollte es nicht sagen – und jetzt muss ich es nicht mehr wissen. Fuck you, Rosebud!“
Nun könnte es unbefriedigend sein, nicht zu erfahren, warum sich der alte Wellershoff mit einer Nylonstrumpfhose einsargen ließ, nicht wahr? Welch langer Anlauf für einen kurzen Sprung. Doch seien Sie ehrlich mit sich selbst, was nützen Ihnen die Weihen höherer Erkenntnis? Wäre es nicht übergriffig von Ihnen, Zugang zum intimsten Glück eines Verstorbenen zu verlangen, der sein klandestines Wissen noch nicht einmal mit dem Sohn zu teilen bereit war? Was ist schon Glück? Ein kurzer Rausch, mediokre Lebenszufriedenheit oder die Seelenleere eines Simpels?
Da Sie noch immer den Zeilen folgen, ist davon auszugehen, dass Sie dem Vorwurf des Voyeurismus ungerührt standhalten und weiterhin auf eine Erklärung hoffen, die der alte Wellershoff unterschlug. Also gut, Sie sollen es erfahren. Der Rosebud des alten Wellershoff, und hier liegt Eugen richtig, war ein erotisches Abenteuer, und vielleicht war es sogar mehr.
Dazu müssen wir uns in die Jugend des alten Wellershoff versetzen. Genauer gesagt, in zehn seiner Tage im Sommer vor 62 Jahren, als er so frei war wie die Brisen, die sein volles Haar umspielten. 1960 fuhr er, ein hübscher Junge von achtzehn Lenzen, mit seinem Motorrad an den Plattensee. Nicht, weil er sich in besonderer Weise für das Land der Magyaren interessiert hätte. Die bezaubernde Landschaft, das Glitzerblau des Sees, Töltött Paprika, Gulyás Csárda, der Charme Transdanubiens, all das war ihm herzlich egal. Ihm ging es allein um das Abstreifen seiner Virginität. Jemand hatte ihm erzählt, dass die ungarischen Mädchen bereit seien, sich für ein Paar Nylonstrumpfhosen – le dernier cri im gloriosen Westen – ganz und gar zu vergessen, sofern man ihnen im gleichen Maße Lieblichkeit und Lebensfreude entgegenbrächte wie sie es selbst täten. Also war er mit einem Koffer voller Nylonstrumpfhosen und einem Zelt aufgebrochen. Und als sich unter den Mädchen von Siófok herumsprach, dass da abseits am Strand ein charmanter junger Deutscher zeltete, dessen körperliche Nähe alles andere als ein Opfer sei und der diese Nähe auch noch mit französischen Nylonstrumpfhosen und vollen Gläsern süßen Erlauer Stierbluts zu vergüten bereit war, bildete sich nächtens wie tagsüber eine derart lange und kichernde Schlange vor des jungen Wellerhoffs Zelt, dass dieser zwei Tage früher als geplant nach Hause fahren musste, insbesondere einem der Mädchen – Eniko – nachtrauernd, um dem totalen Zusammenbruch durch Übervögelung zu entgehen. Erfüllter und gleichzeitig leerer, geheilter und gleichzeitig wunder ist nie wieder ein Mensch gewesen. Simple as that, Sie wollten es wissen.
Was aber zeigt der Wunsch des alten Wellershoff? Einerseits, dass Glück sehr wohl käuflich ist, wenn man bedenkt, dass der alte Wellershoff damals für zwei Dutzend Nylonstrumpfhosen 216.- DM investierte. Andererseits, dass die Himmelsmacht der Liebe eine Schwester der Sehnsucht ist. Wie sonst wäre zu erklären, dass das Mädchen Eniko, welches vor zwei Jahren in Budapest starb, sich eine Flasche Erlauer Stierblut in ihren Sarg legen ließ, in Erinnerung an jenen Sommer 1960, in dem sie eine Nacht voller Liebe im Zelt eines namenlosen Deutschen verbrachte?
(Veröffentlicht in der Zeitschrift für Literatur „Dichtungsring“, Heft 61 im 42. Jahrgang – zur Gedichtzeile „Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin“ von Thomas Brasch)