Von 16 Millionen Ossis war ich wohl einer der ersten, der bereits im Sommer 1988 vom bevorstehenden Mauerfall im Folgejahr erfuhr. Das war damals am Plattensee. Ich habe nie ein großes Gewese darum gemacht, aber es ist eine wahre Geschichte. Ich schwöre es auf meine Eltern, und die sind mir heilig.
Geboren wurde ich 1959 im sächsischen Annaberg, dem Städtchen zu Füßen des Pöhlbergs. Dank meiner freiheitsliebenden Eltern entwickelte ich schon früh eine Abneigung gegen den miefigen Sozialismus meines Landes. Mein Vater war eigentlich Fotograf, aber er bediente ein Leben lang nur die gewaltige Reprokamera im VEB Verpackungsmittel Kombinat Annaberg-Buchholz. Mit seinen Reprografien wurden die Produktkataloge des Kombinats bestückt, mit denen man westliche Kunden auf der Leipziger Messe begeistern wollte, weil man sich von ihnen Devisen erhoffte. Mein Vater hatte wohl schon damals mit diesem Staat gebrochen, der sich, wie er es formulierte, im Hinterzimmer wie eine Nutte auftakelte, um sich im Schaufenster von der westdeutschen Industrie bumsen zu lassen.
Sein inneres Exil aus diesem Land, das er ablehnte, führte ihn in die private Aktfotografie. Eines seiner Modelle, meine Mutter, die nebenberuflich für die Zeitschrift Aus Garn und Wolle vor der Kamera stand, heiratete er schließlich. Ihre Flitterwochen verbrachten sie am Plattensee, der ihnen zeigte, wie lieblich das Leben sein konnte. Wenig später kam ich zur Welt.
Als mein Vater endlich bereit war, mit uns das Land zu verlassen, war plötzlich die Mauer da. Und so blieb für meinen Vater der Plattensee das türkisfarbene Schlüsselloch, durch das er auf eine Welt schaute, die ihm selbst verschlossen blieb, weil er zu lange gezögert hatte.
Jeden Sommerurlaub verbrachten wir am Plattensee. Ostsee, Harz, Thüringer Wald oder die Müritz? Drauf geschissen, sagte mein Vater. Er wollte lauwarmes Wasser spüren, das erst seine Knöchel, dann seine Knie, dann seinen Bauch umspielte. Er wollte einen Blick auf Berge haben, die im Hitzeflirren blauer werden, bis sie im Dunst verschwinden. Er wollte in einem Duft aus Seegras und Süßwasser, Rotwein, Letscho und Hackspießen stehen. So etwas gab es in der DDR nicht.
1963 erwarb mein Vater ein uraltes Segelboot. Und so klapperten wir damit alljährlich die Häfen am Nordufer des Plattensees ab, immer auf der Suche nach dem günstigsten Liegeplatz für unser Holzboot aus den 30er Jahren, eine Wanderjolle mit winziger Kajüte, die wir auf den Namen Remény, Hoffnung, tauften.
Oft ging ich als Kind an der Hand meines Vaters weit hinaus in das badewannige Wasser des Sees. So weit wir auch hineinschritten, das Wasser stieg kaum an uns empor. Unter der glitzernden Oberfläche, deren Sonnenreflexe auf meiner Netzhaut tanzten, sah ich gläserne Fische, die vor meinen Beinen zurückschreckten. Meine Füßchen streiften über von Strömungen geriffelten Sandboden. Wenn mir das Wasser bis zu den Schultern stieg, bedeckte es gerade die Hüften meines Vaters und durchnässte seine Badehose. Dann blieb er stehen, wir drehten uns um und freuten uns über das Treiben am Strand. Das war unser Ritual.
Alles war so anders am Balaton. Während in unsere grauen Visagen der Arbeiterkampf, schlechte Luft und Missgunst gefräst waren, lächelten die Menschen in Ungarn. Sie aßen Knoblauch und scharfe Würste. Sie tranken süße Weine und sangen oberkörperfrei in den Uferkneipen frivole Lieder, die über das Schwarz des nächtlichen Sees hallten. Gelegentlich saßen meine Eltern mit dem Klassenfeind an einem Tisch und ließen sich einladen, weil die Westdeutschen großzügig sein wollten und weil wir als Ostdeutsche kaum genug Devisen für das Benzingemisch hatten, das unseren Wartburg auf seinem Weg zum größten mitteleuropäischen Binnensee und zurück befeuerte.
Manchmal nahmen meine Eltern mich mit in die Kneipe, damit ich, wenn es zu spät wurde, nicht allein auf dem Boot schlief. Oft saß ich, während meine Eltern immer betrunkener wurden, auf dem Schoß irgendeiner Frau aus dem Westen, und ihr Parfum roch so viel aufregender als der brave Tombola-Duft meiner Mutter, komponiert in der Chemischen Fabrik Miltitz.
Mein Vater brachte mir das Wenden und das Halsen bei. Er erklärte mir, wie und wo der Balaton-Wind entsteht. Er zeigte mir, wie man navigiert, wie man Seekarten liest, wie man funkt, welche Vorfahrtsregeln herrschen, wie man Häfen ansteuert und wie man das Boot abfendert. Gemeinsam nahmen wir in jedem Frühjahr den rachitischen Bootsmotor auseinander und setzten ihn wieder zusammen.
Ich hatte in der Zwischenzeit eine Lehre als technischer Zeichner absolviert und begonnen, im VEB Feuerlöschgerätewerk Jöhstadt zu arbeiten. Als nach meiner Mutter auch mein Vater 1980 verstarb, übernahm ich die Remény und fuhr in diesem Sommer ebenfalls an den Plattensee. Dort lernte ich bald Monika kennen, eine hübsche Brünette, die ihren Urlaub allein am Plattensee verbrachte und mich in einem Lokal auf die Remény ansprach. Wir verliebten uns ineinander und sie zog zu mir.
Weil die Devisen aufgrund der ungünstigen Wechselkurse immer heftiger an unseren Urlauben zehrten, hatte ich irgendwann den Tank unseres von meinem Vater geerbten Wartburgs vergrößert. Zu meiner stillen Freude wurde dieses geheime Reservoir unter der Rückbank, das zusätzliche 100 Liter fasste und unsere Reisekasse deutlich entlastete, nie von den Grenzern entdeckt.
1983 heirateten Monika und ich. Unser beider Liebe zum Balaton blieb und wuchs. Als wir im Siófoker Hafen mit Glück einen wunderbaren Liegeplatz für geringes Geld ergattern konnten, kamen wir mit Seglern aus der Bundesrepublik ins Gespräch, deren Boote ebenfalls dort lagen. Vor allem zeigte man Interesse an der Remény, die mittlerweile zu einer antiken Schönheit gereift war.
Da waren das Ehepaar Marwede aus Gütersloh und die Familie Voggenreiter aus München, mit denen wir bei ruhiger See mitten auf dem Balaton mit unseren Booten längs zu gehen pflegten. Dann verzurrten wir unsere Boote miteinander, warfen Anker und sprachen fernab von möglichen Mitlauschenden frei über unser Leben. Marwedes schwärmten vom Segeln vor Mallorca und von der Freiheit. Je mehr wir vom Wein der nahen Berge tranken, umso mehr spann ich Fluchtpläne für uns. Unsere Freunde aus dem Westen warnten mich, dass nicht alles Gold sei, was glänzt. Während die Wellen des Plattensees an unsere Boote schlugen und Böen die Takelage unserer Segel gegen die Masten klopften, erzählte man uns von der Einsamkeit des gehobenen Managements. Völlige Vertrautheit herrschte für einige Wochen zwischen uns, bis wir alle wieder in unsere Wirklichkeiten von BRD und DDR zurückkehren mussten und uns zuvor versicherten, im nächsten Jahr wiederzukommen.
Immer mehr wuchs in mir der Drang, das andere Deutschland kennenzulernen. Je mehr ich mich für den Gedanken erwärmte, umso skeptischer wurde Monika. In der DDR haben wir alles, was wir brauchen, sagte sie. Mallorca ist auch nicht anders als Ungarn, ähnlich warm, nur kleiner, lauter und am Meer. Du hörst doch selbst, wie groß der Druck im Kapitalismus ist. Das sind wir nicht gewohnt, das wird uns kaputtmachen.
Von Jahr zu Jahr wuchsen die Spannungen zwischen Monika und mir. Immer öfter stritten wir uns, wenn wir am Balaton waren. Ich sah im Westen die Freiheit, sie nur ein Risiko. Als im Mai 1987 Mathias Rust mit seiner Cessna auf der Großen Moskwa-Brücke unweit des Roten Platzes landete, war ich wie elektrisiert. So löchrig schien erstmals der Eiserne Vorhang zu sein. Doch etwas später im gleichen Jahr, als wir alle wieder unsere Boote inmitten des Sees zwischen Balatonakali und Balatonlelle vertäut hatten und frei über mögliche Wege in den Westen diskutierten, verweigerte sich Monika erneut allen Fluchtplänen, und sie stritt sich darüber mit den Marwedes und den Voggenreiters. Zurück im Hafen diskutierten wir erhitzt in unserer Kajüte weiter, so lange, bis Segler auf den Nebenbooten riefen, wir sollten endlich ruhig sein, sonst würden sie sich beschweren, und dann wäre es vorbei mit unserem Liegeplatz inmitten des begehrtesten Hafens des Plattensees.
Im Sommer 1988 waren wir wieder am Plattensee. Wenige Tage zuvor hatte Bruce Springsteen in Weißensee sein Konzert gegeben. Ich war dort gewesen und noch immer berauscht von den Bässen und Beats, die mir mit Zehntausenden von Watt die Melodien der Freiheit in die Ohren gehämmert hatten. Unsere Freunde aus dem Westen würden erst am nächsten Tag eintreffen. Monika und ich saßen auf der Remény unter Deck. Wir hatten uns geliebt, alles war eigentlich harmonisch, doch dann kam ich wieder auf eine mögliche Republikflucht zu sprechen. Bald stritten wir wieder heftig. Unsere Bullaugen standen offen, weil es heiß war. Es war schon spät in der Nacht. Sie schrie, wenn ich in den Scheißwesten will, würde sie mich verlassen. Plötzlich klopfte es an unserer Kajütentür. Monika und ich sahen uns geschockt an.
„Das hast du jetzt davon!“, zischte sie mich an, „Wenn das die Polizei ist, sind wir geliefert!“
„Warum verlierst du auch immer gleich die Nerven und zeterst so laut!“, gab ich zurück.
„Warum hast du nicht die Bullaugen geschlossen?!“
Wieder klopfte es. Laut und bestimmt. Ehe Monika und ich etwas sagen konnten, öffnete jemand die Kajütentür und trat barfuß die drei Stufen in unsere Kajüte herab. Vor uns stand ein älterer Mann, der lediglich eine Badehose trug. Er war klein und untersetzt, sein spärliches Haupthaar war nach hinten gekämmt.
Er schaute uns an und sagte mit starkem ungarischem Akzent:
„Sie sind sehr laut. Man kann jedes Wort Ihres Streits verstehen. Mein Boot liegt direkt neben Ihrem. Ich rate Ihnen, nicht zu fliehen.“
Monika versuchte zu leugnen:
„Wir haben gar nicht über Flucht gesprochen.“
„Doch das haben Sie. Deshalb sage ich Ihnen, dass es ist nicht nötig ist, zu fliehen. Im nächsten Jahr wird die Mauer fallen. Es ist eine beschlossene Sache auf höchster Ebene.“
„Eine beschlossene Sache?“, fragte ich ungläubig. „Wer sind Sie, dass Sie hier nachts auf unser Boot kommen und uns einen solchen Blödsinn erzählen?“
„Mein Name ist Péter Várkonyi. Ich bin der Außenminister Ungarns, und ich will einfach nur, dass Sie endlich still sind, damit ich in Ruhe schlafen kann. Gute Nacht.“
Mit diesen Worten stieg der ungarische Außenminister wieder unsere Treppe empor und zog das Kajütentürchen hinter sich zu.
Am zehnten Mai 1989 wurde Péter Várkonyi durch Gyula Horn abgelöst, der als neuer Außenminister gemeinsam mit seinem österreichischen Amtskollegen Alois Mock den Grenzzaun bei Sopron symbolisch durchtrennte. Im November 1989 fiel die Mauer.
Ein Jahr später beantragte ich Akteneinsicht bei der Gauck-Behörde. Eigentlich nur aus einer Laune der Neugier heraus, ich hatte keine konkreten Befürchtungen, doch zu meiner großen Überraschung war meine Akte umfangreich. Ich las darin, dass man Monika vor zehn Jahren am Plattensee auf mich angesetzt hatte, um mehr über westdeutsche Ungarnurlauber zu erfahren. Kein Wunder, dass sie an einer Flucht nie interessiert gewesen war. Der Liegeplatz im Hafen von Siófok war natürlich kein Zufall gewesen. Und auch mein versteckter Extratank war in der Akte mit dem Vermerk festgehalten, uns deswegen nicht an der Weiterfahrt zu stoppen. Monika hatte umfangreiche Dossiers über die Familien Marwede und Voggenreiter zusammengetragen. Marwede war ein Top-Manager bei Bertelsmann. Voggenreiter arbeitete an Panzer-Optiken in der Entwicklungsabteilung von Krauss-Maffei. Die Details der Berichte interessierten mich nicht. Ich war neugierig, von Monika zu erfahren, warum sie in der Stasi gewesen war. Doch als ich von der Gauck-Behörde zurück nach Hause fuhr, war Monika bereits ausgezogen. Sie sprach nicht mehr mit mir. Wir haben uns scheiden lassen.
Das alles ist Jahrzehnte her. Noch immer fahre ich im Sommer an den Plattensee. Die Remény habe ich verkauft. Doch ich will lauwarmes Wasser spüren, das erst meine Knöchel, dann meine Knie, dann meinen Bauch umspielt. Unter der Oberfläche des glitzernden Wassers, dessen Sonnenreflexe auf meiner Netzhaut tanzen, sehe ich dann gläserne Fische, die vor meinen Beinen zurückschrecken. Meine Füße streifen über von Strömungen geriffelten Sandboden. Wenn das Wasser meine Hüften bedeckt und meine Badehose durchnässt, drehe ich mich um, freue mich über das Treiben am Strand und weine.