Männer in Badehosen

Von 16 Millionen Ossis war ich wohl einer der ersten, der bereits im Sommer 1988 vom bevorstehenden Mauerfall im Folgejahr erfuhr. Das war damals am Plattensee. Ich habe nie ein großes Gewese darum gemacht, aber es ist eine wahre Geschichte. Ich schwöre es auf meine Eltern, und die sind mir heilig.
Geboren wurde ich 1959 im sächsischen Annaberg, dem Städtchen zu Füßen des Pöhlbergs. Dank meiner freiheitsliebenden Eltern entwickelte ich schon früh eine Abneigung gegen den miefigen Sozialismus meines Landes. Mein Vater war eigentlich Fotograf, aber er bediente ein Leben lang nur die gewaltige Reprokamera im VEB Verpackungsmittel Kombinat Annaberg-Buchholz. Mit seinen Reprografien wurden die Produktkataloge des Kombinats bestückt, mit denen man westliche Kunden auf der Leipziger Messe begeistern wollte, weil man sich von ihnen Devisen erhoffte. Mein Vater hatte wohl schon damals mit diesem Staat gebrochen, der sich, wie er es formulierte, im Hinterzimmer wie eine Nutte auftakelte, um sich im Schaufenster von der westdeutschen Industrie bumsen zu lassen.
Sein inneres Exil aus diesem Land, das er ablehnte, führte ihn in die private Aktfotografie. Eines seiner Modelle, meine Mutter, die nebenberuflich für die Zeitschrift Aus Garn und Wolle vor der Kamera stand, heiratete er schließlich. Ihre Flitterwochen verbrachten sie am Plattensee, der ihnen zeigte, wie lieblich das Leben sein konnte. Wenig später kam ich zur Welt.
Als mein Vater endlich bereit war, mit uns das Land zu verlassen, war plötzlich die Mauer da. Und so blieb für meinen Vater der Plattensee das türkisfarbene Schlüsselloch, durch das er auf eine Welt schaute, die ihm selbst verschlossen blieb, weil er zu lange gezögert hatte.
Jeden Sommerurlaub verbrachten wir am Plattensee. Ostsee, Harz, Thüringer Wald oder die Müritz? Drauf geschissen, sagte mein Vater. Er wollte lauwarmes Wasser spüren, das erst seine Knöchel, dann seine Knie, dann seinen Bauch umspielte. Er wollte einen Blick auf Berge haben, die im Hitzeflirren blauer werden, bis sie im Dunst verschwinden. Er wollte in einem Duft aus Seegras und Süßwasser, Rotwein, Letscho und Hackspießen stehen. So etwas gab es in der DDR nicht.
1963 erwarb mein Vater ein uraltes Segelboot. Und so klapperten wir damit alljährlich die Häfen am Nordufer des Plattensees ab, immer auf der Suche nach dem günstigsten Liegeplatz für unser Holzboot aus den 30er Jahren, eine Wanderjolle mit winziger Kajüte, die wir auf den Namen Remény, Hoffnung, tauften.
Oft ging ich als Kind an der Hand meines Vaters weit hinaus in das badewannige Wasser des Sees. So weit wir auch hineinschritten, das Wasser stieg kaum an uns empor. Unter der glitzernden Oberfläche, deren Sonnenreflexe auf meiner Netzhaut tanzten, sah ich gläserne Fische, die vor meinen Beinen zurückschreckten. Meine Füßchen streiften über von Strömungen geriffelten Sandboden. Wenn mir das Wasser bis zu den Schultern stieg, bedeckte es gerade die Hüften meines Vaters und durchnässte seine Badehose. Dann blieb er stehen, wir drehten uns um und freuten uns über das Treiben am Strand. Das war unser Ritual.
Alles war so anders am Balaton. Während in unsere grauen Visagen der Arbeiterkampf, schlechte Luft und Missgunst gefräst waren, lächelten die Menschen in Ungarn. Sie aßen Knoblauch und scharfe Würste. Sie tranken süße Weine und sangen oberkörperfrei in den Uferkneipen frivole Lieder, die über das Schwarz des nächtlichen Sees hallten. Gelegentlich saßen meine Eltern mit dem Klassenfeind an einem Tisch und ließen sich einladen, weil die Westdeutschen großzügig sein wollten und weil wir als Ostdeutsche kaum genug Devisen für das Benzingemisch hatten, das unseren Wartburg auf seinem Weg zum größten mitteleuropäischen Binnensee und zurück befeuerte.
Manchmal nahmen meine Eltern mich mit in die Kneipe, damit ich, wenn es zu spät wurde, nicht allein auf dem Boot schlief. Oft saß ich, während meine Eltern immer betrunkener wurden, auf dem Schoß irgendeiner Frau aus dem Westen, und ihr Parfum roch so viel aufregender als der brave Tombola-Duft meiner Mutter, komponiert in der Chemischen Fabrik Miltitz.
Mein Vater brachte mir das Wenden und das Halsen bei. Er erklärte mir, wie und wo der Balaton-Wind entsteht. Er zeigte mir, wie man navigiert, wie man Seekarten liest, wie man funkt, welche Vorfahrtsregeln herrschen, wie man Häfen ansteuert und wie man das Boot abfendert. Gemeinsam nahmen wir in jedem Frühjahr den rachitischen Bootsmotor auseinander und setzten ihn wieder zusammen.
Ich hatte in der Zwischenzeit eine Lehre als technischer Zeichner absolviert und begonnen, im VEB Feuerlöschgerätewerk Jöhstadt zu arbeiten. Als nach meiner Mutter auch mein Vater 1980 verstarb, übernahm ich die Remény und fuhr in diesem Sommer ebenfalls an den Plattensee. Dort lernte ich bald Monika kennen, eine hübsche Brünette, die ihren Urlaub allein am Plattensee verbrachte und mich in einem Lokal auf die Remény ansprach. Wir verliebten uns ineinander und sie zog zu mir.
Weil die Devisen aufgrund der ungünstigen Wechselkurse immer heftiger an unseren Urlauben zehrten, hatte ich irgendwann den Tank unseres von meinem Vater geerbten Wartburgs vergrößert. Zu meiner stillen Freude wurde dieses geheime Reservoir unter der Rückbank, das zusätzliche 100 Liter fasste und unsere Reisekasse deutlich entlastete, nie von den Grenzern entdeckt.
1983 heirateten Monika und ich. Unser beider Liebe zum Balaton blieb und wuchs. Als wir im Siófoker Hafen mit Glück einen wunderbaren Liegeplatz für geringes Geld ergattern konnten, kamen wir mit Seglern aus der Bundesrepublik ins Gespräch, deren Boote ebenfalls dort lagen. Vor allem zeigte man Interesse an der Remény, die mittlerweile zu einer antiken Schönheit gereift war.
Da waren das Ehepaar Marwede aus Gütersloh und die Familie Voggenreiter aus München, mit denen wir bei ruhiger See mitten auf dem Balaton mit unseren Booten längs zu gehen pflegten. Dann verzurrten wir unsere Boote miteinander, warfen Anker und sprachen fernab von möglichen Mitlauschenden frei über unser Leben. Marwedes schwärmten vom Segeln vor Mallorca und von der Freiheit. Je mehr wir vom Wein der nahen Berge tranken, umso mehr spann ich Fluchtpläne für uns. Unsere Freunde aus dem Westen warnten mich, dass nicht alles Gold sei, was glänzt. Während die Wellen des Plattensees an unsere Boote schlugen und Böen die Takelage unserer Segel gegen die Masten klopften, erzählte man uns von der Einsamkeit des gehobenen Managements. Völlige Vertrautheit herrschte für einige Wochen zwischen uns, bis wir alle wieder in unsere Wirklichkeiten von BRD und DDR zurückkehren mussten und uns zuvor versicherten, im nächsten Jahr wiederzukommen.
Immer mehr wuchs in mir der Drang, das andere Deutschland kennenzulernen. Je mehr ich mich für den Gedanken erwärmte, umso skeptischer wurde Monika. In der DDR haben wir alles, was wir brauchen, sagte sie. Mallorca ist auch nicht anders als Ungarn, ähnlich warm, nur kleiner, lauter und am Meer. Du hörst doch selbst, wie groß der Druck im Kapitalismus ist. Das sind wir nicht gewohnt, das wird uns kaputtmachen.
Von Jahr zu Jahr wuchsen die Spannungen zwischen Monika und mir. Immer öfter stritten wir uns, wenn wir am Balaton waren. Ich sah im Westen die Freiheit, sie nur ein Risiko. Als im Mai 1987 Mathias Rust mit seiner Cessna auf der Großen Moskwa-Brücke unweit des Roten Platzes landete, war ich wie elektrisiert. So löchrig schien erstmals der Eiserne Vorhang zu sein. Doch etwas später im gleichen Jahr, als wir alle wieder unsere Boote inmitten des Sees zwischen Balatonakali und Balatonlelle vertäut hatten und frei über mögliche Wege in den Westen diskutierten, verweigerte sich Monika erneut allen Fluchtplänen, und sie stritt sich darüber mit den Marwedes und den Voggenreiters. Zurück im Hafen diskutierten wir erhitzt in unserer Kajüte weiter, so lange, bis Segler auf den Nebenbooten riefen, wir sollten endlich ruhig sein, sonst würden sie sich beschweren, und dann wäre es vorbei mit unserem Liegeplatz inmitten des begehrtesten Hafens des Plattensees.
Im Sommer 1988 waren wir wieder am Plattensee. Wenige Tage zuvor hatte Bruce Springsteen in Weißensee sein Konzert gegeben. Ich war dort gewesen und noch immer berauscht von den Bässen und Beats, die mir mit Zehntausenden von Watt die Melodien der Freiheit in die Ohren gehämmert hatten. Unsere Freunde aus dem Westen würden erst am nächsten Tag eintreffen. Monika und ich saßen auf der Remény unter Deck. Wir hatten uns geliebt, alles war eigentlich harmonisch, doch dann kam ich wieder auf eine mögliche Republikflucht zu sprechen. Bald stritten wir wieder heftig. Unsere Bullaugen standen offen, weil es heiß war. Es war schon spät in der Nacht. Sie schrie, wenn ich in den Scheißwesten will, würde sie mich verlassen. Plötzlich klopfte es an unserer Kajütentür. Monika und ich sahen uns geschockt an.
„Das hast du jetzt davon!“, zischte sie mich an, „Wenn das die Polizei ist, sind wir geliefert!“
„Warum verlierst du auch immer gleich die Nerven und zeterst so laut!“, gab ich zurück.
„Warum hast du nicht die Bullaugen geschlossen?!“
Wieder klopfte es. Laut und bestimmt. Ehe Monika und ich etwas sagen konnten, öffnete jemand die Kajütentür und trat barfuß die drei Stufen in unsere Kajüte herab. Vor uns stand ein älterer Mann, der lediglich eine Badehose trug. Er war klein und untersetzt, sein spärliches Haupthaar war nach hinten gekämmt.
Er schaute uns an und sagte mit starkem ungarischem Akzent:
„Sie sind sehr laut. Man kann jedes Wort Ihres Streits verstehen. Mein Boot liegt direkt neben Ihrem. Ich rate Ihnen, nicht zu fliehen.“
Monika versuchte zu leugnen:
„Wir haben gar nicht über Flucht gesprochen.“
„Doch das haben Sie. Deshalb sage ich Ihnen, dass es ist nicht nötig ist, zu fliehen. Im nächsten Jahr wird die Mauer fallen. Es ist eine beschlossene Sache auf höchster Ebene.“
„Eine beschlossene Sache?“, fragte ich ungläubig. „Wer sind Sie, dass Sie hier nachts auf unser Boot kommen und uns einen solchen Blödsinn erzählen?“
„Mein Name ist Péter Várkonyi. Ich bin der Außenminister Ungarns, und ich will einfach nur, dass Sie endlich still sind, damit ich in Ruhe schlafen kann. Gute Nacht.“
Mit diesen Worten stieg der ungarische Außenminister wieder unsere Treppe empor und zog das Kajütentürchen hinter sich zu.
Am zehnten Mai 1989 wurde Péter Várkonyi durch Gyula Horn abgelöst, der als neuer Außenminister gemeinsam mit seinem österreichischen Amtskollegen Alois Mock den Grenzzaun bei Sopron symbolisch durchtrennte. Im November 1989 fiel die Mauer.
Ein Jahr später beantragte ich Akteneinsicht bei der Gauck-Behörde. Eigentlich nur aus einer Laune der Neugier heraus, ich hatte keine konkreten Befürchtungen, doch zu meiner großen Überraschung war meine Akte umfangreich. Ich las darin, dass man Monika vor zehn Jahren am Plattensee auf mich angesetzt hatte, um mehr über westdeutsche Ungarnurlauber zu erfahren. Kein Wunder, dass sie an einer Flucht nie interessiert gewesen war. Der Liegeplatz im Hafen von Siófok war natürlich kein Zufall gewesen. Und auch mein versteckter Extratank war in der Akte mit dem Vermerk festgehalten, uns deswegen nicht an der Weiterfahrt zu stoppen. Monika hatte umfangreiche Dossiers über die Familien Marwede und Voggenreiter zusammengetragen. Marwede war ein Top-Manager bei Bertelsmann. Voggenreiter arbeitete an Panzer-Optiken in der Entwicklungsabteilung von Krauss-Maffei. Die Details der Berichte interessierten mich nicht. Ich war neugierig, von Monika zu erfahren, warum sie in der Stasi gewesen war. Doch als ich von der Gauck-Behörde zurück nach Hause fuhr, war Monika bereits ausgezogen. Sie sprach nicht mehr mit mir. Wir haben uns scheiden lassen.
Das alles ist Jahrzehnte her. Noch immer fahre ich im Sommer an den Plattensee. Die Remény habe ich verkauft. Doch ich will lauwarmes Wasser spüren, das erst meine Knöchel, dann meine Knie, dann meinen Bauch umspielt. Unter der Oberfläche des glitzernden Wassers, dessen Sonnenreflexe auf meiner Netzhaut tanzen, sehe ich dann gläserne Fische, die vor meinen Beinen zurückschrecken. Meine Füße streifen über von Strömungen geriffelten Sandboden. Wenn das Wasser meine Hüften bedeckt und meine Badehose durchnässt, drehe ich mich um, freue mich über das Treiben am Strand und weine.

Fuck you, Rosebud

Im letzten Sommer verstarb der alte Wellershoff. Er lag im Schlafzimmer, die Arme über der Decke wie Stöcke, das kahle Haupt schweißglänzend, und er starrte auf die andere Decke, jene über ihm. Wolf, am Bett seines Vaters sitzend, betrachtete den alten Herrn, der bereits zur Hälfte entschwunden war, da der Tod in Gestalt multipler Tumoren an ihm kaute.
Seit Tagen sprach der alte Wellershoff nicht mehr, halb dem Morphin, halb seinen Erinnerungen ergeben, die durch sein von Metastasen getrübtes Bewusstsein mäanderten. Kaum noch war er ansprechbar, und nur noch gelegentlich kehrte er aus den Schemen seines Lebens zurück. So wie jetzt, als er sich plötzlich im Bett aufrichtete und verkündete:
„Sohn, wenn es soweit ist, soll man eine Nylonstrumpfhose in meinen Sarg legen.“
„Wie bitte?“
„Man soll eine Nylonstrumpfhose in den Sarg legen.“
„Warum?“
Wolfs Vater sank in seine Kissen zurück:
„Du musst nicht alles wissen, Sohn.“
„Vater, ist es … ?“
„Versuche es gar nicht erst.“
„Bei allem Respekt, Vater, warst du heimlich ein Transvestit?“
„Frage nicht weiter. Und auf keinen Fall wirst du ein Wort gegenüber deiner Mutter darüber verlieren. Es ist unser Geheimnis. Versprichst du es?“
„Ja, ich verspreche es.“
„Gut. Jetzt gib’ mir einen Kuss und dann lass mich schlafen.“
In der Nacht starb der alte Wellershoff. Alsbald besuchte ein Bestatter Witwe und Wolf. Wolf nahm den Mann beiseite und klärte ihn über den Wunsch des Vaters auf, der an der Witwe vorbei zu erfüllen sei. Der Bestatter reagierte gleichmütig:
„Eine Nylonstrumpfhose, das ist alles? Soll ich sie ihm gleich anziehen?“
„Nein, sie soll nur in den Sarg gelegt werden.“
Der alte Wellershoff wurde beigesetzt. Während der Aussegnung stellte Wolf sich vor, wie sich das Holz des Sarges den Maden, Larven und Asseln hingäbe, die ihre Fraßgänge in die Maserung trieben, immer tiefer hinein bis zu den textilen Stoffen, durch das mit Körperflüssigkeiten getränkte Doppelkrepp und das angetackerte Baumwollleinen hindurch, alles Fleischliche verstoffwechselnd, um schließlich verdutzt an der Unverdaulichkeit einer Strumpfhose aus Kunstfaser zu scheitern; und während das Gewimmel im Erdtiefen nicht nach Erklärungen suchte, fragte Wolf sich mehr denn je, warum in des Schöpfers Namen eine Strumpfhose im Sarg liegen sollte.
Ein Freund namens Eugen, Endokrinologe mit einem Faible fürs dramatische Fach, brachte ihn auf eine Spur:
„Es ist offensichtlich, dein Vater ist ein verhinderter Citizen Kane. Ein schwärmerischer Hedonist, ein Jäger auf der Pirsch nach dem Glück in elysischen Feldern.“
„Wer ist Citizen Kane?“
„Citizen Kane ist ein Film aus der Schwarzweißblüte Hollywoods. Foster Kane, reichster Mann der Welt, Magnat aller Magnaten, stirbt in seinem Schloss Xanadu, und im Moment des Ablebens flüstert er, während ihm aus greiser Hand eine Schneekugel entfällt und in Myriaden von Splittern zerbirst, ein letztes Wort: Rosebud. Ein Reporter sucht bis zum Ende des Films vergebens nach der Bedeutung des Wortes.“
„Also bleibt Rosebud ein Geheimnis?“
„Nein, der Zuschauer erfährt es in der letzten Sequenz. Die Besitztümer Kanes – Möbel, Teppiche, Bücher, Gemälde – zusammengetragen in einer gewaltigen Halle, werden von Arbeitern in einem Ofen verbrannt. Schließlich wird der Kinderschlitten Foster Kanes in das Feuer geworfen, und im Züngeln der Flammen wird der Name des Schlittens sichtbar. Rosebud – die Erinnerung an einen traumatischen Wintertag in der Kindheit Foster Kanes, ein Tag, an dem ihn seine Mutter verließ.“
„Und du denkst, dass die Strumpfhose meines Vaters die gleiche Bedeutung hat?“
„Eine ähnliche. Ich vermute, dass bei Foster Kane ein Schub des Oxytozins, ein Neuropeptid aus der Gruppe der Proteohormone, ursächlich war, welches die Bindung zwischen Mutter und Kind prägt. Bei deinem Vater könnte es sexuell konnotiert sein, die Reminiszenz an einen ekstatischen Dopamincocktail, dessen Zuckerrand aus Testosteron bestand.“
„Was empfiehlst du?“
„Suche nach dem Rosebud deines Vaters. Die Strumpfhose war für deinen alten Herrn von Bedeutung, weil sie ihn an die unerfüllt erfüllteste Zeit seines Lebens erinnerte.“
„Aber warum braucht er sie im Sarg?“
„Wer weiß das schon? Wollte er vorbereitet sein auf das Kommende? Vielleicht dachte er gar an eine holde Ophelia, wie im Hamlet? Wir wissen wohl, was wir sind, aber nicht, was wir werden können – so ihre Worte.“
In den nächsten Tagen und Wochen versuchte Wolf auf alle erdenklichen Weisen, das Rätsel zu ergründen. Er befragte die Mutter, löcherte ergraute Weggefährten, recherchierte nach Liebschaften, stöberte in Briefen, durchforstete vergilbte Notizbücher. Doch die Nylonstrumpfhose des alten Wellershoff blieb ein Mysterium.
Nach Monaten der vergeblichen Suche stellte Wolf resignierend gegenüber Eugen fest:
„Er wollte es nicht sagen – und jetzt muss ich es nicht mehr wissen. Fuck you, Rosebud!“
Nun könnte es unbefriedigend sein, nicht zu erfahren, warum sich der alte Wellershoff mit einer Nylonstrumpfhose einsargen ließ, nicht wahr? Welch langer Anlauf für einen kurzen Sprung. Doch seien Sie ehrlich mit sich selbst, was nützen Ihnen die Weihen höherer Erkenntnis? Wäre es nicht übergriffig von Ihnen, Zugang zum intimsten Glück eines Verstorbenen zu verlangen, der sein klandestines Wissen noch nicht einmal mit dem Sohn zu teilen bereit war? Was ist schon Glück? Ein kurzer Rausch, mediokre Lebenszufriedenheit oder die Seelenleere eines Simpels?
Da Sie noch immer den Zeilen folgen, ist davon auszugehen, dass Sie dem Vorwurf des Voyeurismus ungerührt standhalten und weiterhin auf eine Erklärung hoffen, die der alte Wellershoff unterschlug. Also gut, Sie sollen es erfahren. Der Rosebud des alten Wellershoff, und hier liegt Eugen richtig, war ein erotisches Abenteuer, und vielleicht war es sogar mehr.
Dazu müssen wir uns in die Jugend des alten Wellershoff versetzen. Genauer gesagt, in zehn seiner Tage im Sommer vor 62 Jahren, als er so frei war wie die Brisen, die sein volles Haar umspielten. 1960 fuhr er, ein hübscher Junge von achtzehn Lenzen, mit seinem Motorrad an den Plattensee. Nicht, weil er sich in besonderer Weise für das Land der Magyaren interessiert hätte. Die bezaubernde Landschaft, das Glitzerblau des Sees, Töltött Paprika, Gulyás Csárda, der Charme Transdanubiens, all das war ihm herzlich egal. Ihm ging es allein um das Abstreifen seiner Virginität. Jemand hatte ihm erzählt, dass die ungarischen Mädchen bereit seien, sich für ein Paar Nylonstrumpfhosen – le dernier cri im gloriosen Westen – ganz und gar zu vergessen, sofern man ihnen im gleichen Maße Lieblichkeit und Lebensfreude entgegenbrächte wie sie es selbst täten. Also war er mit einem Koffer voller Nylonstrumpfhosen und einem Zelt aufgebrochen. Und als sich unter den Mädchen von Siófok herumsprach, dass da abseits am Strand ein charmanter junger Deutscher zeltete, dessen körperliche Nähe alles andere als ein Opfer sei und der diese Nähe auch noch mit französischen Nylonstrumpfhosen und vollen Gläsern süßen Erlauer Stierbluts zu vergüten bereit war, bildete sich nächtens wie tagsüber eine derart lange und kichernde Schlange vor des jungen Wellerhoffs Zelt, dass dieser zwei Tage früher als geplant nach Hause fahren musste, insbesondere einem der Mädchen – Eniko – nachtrauernd, um dem totalen Zusammenbruch durch Übervögelung zu entgehen. Erfüllter und gleichzeitig leerer, geheilter und gleichzeitig wunder ist nie wieder ein Mensch gewesen. Simple as that, Sie wollten es wissen.
Was aber zeigt der Wunsch des alten Wellershoff? Einerseits, dass Glück sehr wohl käuflich ist, wenn man bedenkt, dass der alte Wellershoff damals für zwei Dutzend Nylonstrumpfhosen 216.- DM investierte. Andererseits, dass die Himmelsmacht der Liebe eine Schwester der Sehnsucht ist. Wie sonst wäre zu erklären, dass das Mädchen Eniko, welches vor zwei Jahren in Budapest starb, sich eine Flasche Erlauer Stierblut in ihren Sarg legen ließ, in Erinnerung an jenen Sommer 1960, in dem sie eine Nacht voller Liebe im Zelt eines namenlosen Deutschen verbrachte?

(Veröffentlicht in der Zeitschrift für Literatur „Dichtungsring“, Heft 61 im 42. Jahrgang – zur Gedichtzeile „Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin“ von Thomas Brasch)

Zahn um Zahn

Ich sitz im Nachtzug nach Berlin,
die Augen falln mir zu
mal wieder hart war mein Termin
Da sagt ein Mann: Hey du!

Er fiel mir schon beim Einstieg auf
schien irgendwas zu suchen
ein grober Kerl, Muskeln zuhauf
man hörte nur sein Fluchen.

Jetft fteh mal auf, spricht er zu mir,
If fuche mein Gebiff,
Das ist nun ganz bestimmt nicht hier,
Doch doch, ef ift gewiff!

Ich wehr ihn ab, will sitzenbleiben,
ich bin so hundemüde,
die Beisser hast du abzuschreiben
da wird er ziemlich rüde.

Nun fteh fon auf, du blöder Fack,
ich fuch hier bald feit Ftunden!
Na gut, ich stehe auf – und knack,
ich glaub, ich hab‘s gefunden!

Anstatt sich höflich zu bedanken
wie man‘s doch eben macht
spür ich nur eine seiner Pranken
im Kiefer, dass es kracht.

Jetzt sitz ich hier, spuck Zähne, Blut
perfekt ist die Malaise,
schreib mir ein Memo voller Wut:
Termin für ne Prothese!

(Literaturhaus Zürich, Gewinnertext im Monat Februar 2022 zur ausgelosten Themenvorgabe „Gedicht – im Nachtzug nach Berlin – Prothese“, http://www.literaturhaus.ch)

Eine Hitze zu Johannis

„Na, Papa, wie gefällt’s dir hier?“
„Scheiße.“
„Wir haben doch lange und breit darüber gesprochen. Es ist die beste Lösung.“
„Für dich vielleicht.“
Vater und Sohn trinken Kaffee im Aufenthaltsraum des St. Vincentius Altenheims und schauen sich um. Ein Dutzend Tische, an denen Weißhaarige allein oder in Grüppchen hocken. Das Panoramafenster zeigt märkische Kiefernweiten unter dem Blau des Junihimmels. Trockengestecke an orangefarbenen Wänden zwischen aufgeklebtem Fachwerk. Das Summen einiger Ventilatoren, die die Sommerhitze verschieben. Kakteen und Orchideen auf den Fensterbänken. Es riecht nach Eau de Cologne und Desinfektion.
Der Vater verdreht die Augen:
„Alles alte Säcke hier.“
„Mit 87 Jahren bist du selbst ein alter Sack.“
„Sack, ja. Aber nicht alt.“
„Ein Riesenglück, dass nicht mehr passiert ist bei deinen Stürzen. Es ist das Beste, glaub mir. Hier kann ich dich oft besuchen. Und schau mal, die machen alle einen ganz vergnügten Eindruck.“
„Sehen aus, als warten sie auf den Abdecker.“
„Papa!“
„Ist doch wahr.“
„Da hinten spielen sie Brettspiele. Und da drüben wird gebastelt. Und dort ist sogar eine Bibliothek mit Sesseln, sieht doch ganz gemütlich aus.“
„Ein schöner Platz zum Sterben.“
„Ach was, du wirst dich daran gewöhnen.“
Der Blick des Sohnes wandert über die Senioren an ihren Tischen.
„Mit wem möchtest du denn mal näher bekannt werden?“
„Am liebsten mit der Schwester.“
Der Vater betrachtet wohlgefällig die Pflegekraft, die einen Heimbewohner im Rollstuhl an einen der Tische schiebt. Sie mag um die 40 Jahre alt sein, vielleicht auch etwas älter, schlank, mit einem hübschen Gesicht und blondierten Locken. Quer durch den Raum ruft er ihr zu, so dass alle Gespräche verstummen:
„Wie heißen Sie, schönes Kind?“
Lächelnd dreht sie sich nach ihm um.
„Ich bin Jutta. Und wer sind Sie, schöner Mann?“
Er deutet im Sitzen eine Verbeugung an.
„Ich bin Hans, Ihr neuer Verehrer, wenn Sie gestatten!“
Sie zwinkert ihm zu.
„Ich gestatte es, Hans.“
Er wirft ihr eine Kusshand zu. Sie kichert und widmet sich wieder ihrer Arbeit.
Der Sohn mustert seinen Beifall heischenden Vater und meint:
„Ich wusste gar nicht, dass du so peinlich sein kannst, Papa.“
„Ach was. Das ist genau meine Kragenweite.“
„Vielleicht damals nach dem Krieg.“
„Nicht frech werden, Junge.“
„Wie soll das gehen? Willst du ihr den Hof machen? Und wenn sie schon einen Mann hat?“
„Weißt du, was dein Problem ist, mein Sohn? Du denkst zu viel. Hast Angst vor den Weibern. Dabei wäre das genau die Richtige für dich. Vom Alter her passt es und vom Aussehen her sowieso. Die ist nicht so spinnert und blutleer wie dein letzter Blaustrumpf.“
„Ich habe keine Angst vor Frauen.“
„Doch. Deshalb ist auch deine Ehe gescheitert. Aber die beißen nicht, die wollen nur spielen. Das ist wie bei der Jagd. Folge deiner Flinte. Aber drück’ nicht zu früh ab, das mögen die Ladies nicht.“
„Danke, Papa, bitte keine Details.“
So sitzt der Sohn noch eine Weile bei seinem Vater. Später bringt er den Vater auf das Zimmer und verabschiedet sich dort.
„Mach’s gut, Papa. Und mach keinen Blödsinn.“
„Mach ich nie.“
„Ich besuche dich am nächsten Wochenende.“
„Ist gut.“
Der Vater hält seinem Sohn die Wange hin. Ein Kuss und ein Tschüss.

Sein Sohn versteht ihn nicht. Hat ihn noch nie verstanden. Aber vielleicht muss das so sein. Kinder sollten nicht zu viel über ihre Eltern wissen. Was hatte er von seinen Eltern gewusst? Und was wusste sein Sohn von ihm und der Mutter? Seine Ehe war ein Missverständnis gewesen bis zu ihrem Tod vor einigen Jahren. Ganz am Anfang, in den frühen Jahren, hatten sie noch Spaß aneinander gehabt. Er wohl immer etwas mehr als sie. Spät war sie schwanger geworden. Nach der Geburt des Sohnes hatte sie das Interesse an diesem Körperlichen, wie sie es nannte, gänzlich verloren. Mein Kind habe ich jetzt, sagte sie, mehr brauche ich nicht, geh halt kalt duschen. Manchmal, wenn er gar zu sehr drängte – Mariechen, ganz einschlafen lassen dürfen wir es nicht – , dann hatte sie ihm ihren Rücken zugedreht, das Nachthemd nach oben gestreift und gewartet, bis er fertig war. Wie unfroh, wie sinnenlos.
Schon bald hatte er sich nach anderen Frauen umgeschaut und beherzt zugegriffen, immer wieder. Und doch, sie alle konnten, wie die Mutter seines Sohnes, nicht mithalten mit seiner Jugendliebe. Elsa. Damals, in seiner Jugend, war alles so anders gewesen, so leicht, so stürmend, so überschäumend. Sie hatten Kondome aus Wehrmachtsbeständen benutzt, die er irgendwo stibitzt hatte, und es war ein Wunder, dass sie nicht schwanger geworden war, so oft, wie beide die Hitze zwischen den Beinen überkam. Gesungen hatte er für sie, als sie einmal danach am Belzower See lagen, an dieser nur ihnen bekannten Stelle zwischen Föhren und Eichen. Und während seine forsche Hand über ihre Beine geglitten war, von unten bis ganz nach oben, wo sie in der Beuge verharrte, hatte er einen Schlager von Siegfried Arno gesungen, „Wenn die Elisabeth nicht so schöne Beine hätt‘, hätt’se viel mehr Freud an dem neuen langen Kleid. Doch da sie Beine hat, tadellos und kerzengrad, tut es ihr so leid um das alte kurze Kleid … “ Und sie hatte gelacht und ihm einen Klaps auf seine Hand gegeben, und als er sie wegzog, hatte sie seine Hand wieder zurückgelegt, und dann waren sie noch etwas länger am See geblieben, bis die Sonne längst untergegangen war.

 „Und, hast du dich gut eingelebt, Papa?“
„Na ja.“
„Tut mir leid, dass ich es am letzten Wochenende nicht geschafft habe. Es war viel zu tun in der Firma. Und es ist ein ordentlicher Weg aus Berlin hierher.“
„Macht nichts.“
Vater und Sohn sitzen im Aufenthaltsraum des Altenheims. Der Sohn rührt in seinem Kaffee:
„Wie ist das Essen hier?“
„Besser als mit einem schmutzigen Stock ins Auge.“
„Hauptsache, du wirst satt. Soll ich dir irgendwas Bestimmtes mitbringen? In deinem Kühlschrank zuhause war immer alles vergammelt. Irgendwann hättest du dich selbst vergiftet.“
Schwester Jutta tritt zu ihnen an den Tisch. Zur Überraschung des Sohnes legt der Vater wie selbstverständlich seinen Arm um die Hüfte der jungen Frau. Und zum ersten Mal seit langem lächelt er.
„Darf ich Dir Jutta vorstellen?“
„Wir kennen uns doch bereits“, sagt der Sohn, „Zumindest flüchtig. Vom letzten Besuch.“
Jutta und der Sohn geben sich die Hand und wechseln einige Belanglosigkeiten. Sie ist wirklich attraktiv, denkt der Sohn. Was will sie von meinem Vater? Später, als Jutta gegangen ist, fragt sein Vater:
„Wäre das nicht etwas für dich? Sie hat gerade keinen Mann. Ihr Freund hat sie vor einigen Monaten verlassen. Was für ein Idiot.“
Und der Sohn hört gar nicht richtig zu, weil er gerade an etwas Anderes denkt, und er fragt:
„Gibst du ihr Geld dafür?“
Das Gesicht des Alten versteinert, dann sagt er:
„Es wird Zeit, dass du gehst.“
„Es tut mir leid, ich habe es nicht so gemeint. Ich mache mir nur Sorgen.“
„Ich weiß schon, wie es gemeint war.“
Es ist nichts mehr zu sagen. Beim Abschied hält der Vater seinem Sohn nicht die Wange hin. Kein Kuss, nur ein Tschüss.

Als ob er jemals eine Frau für Gefälligkeiten bezahlt hätte! Immer waren sie freiwillig zu ihm gekommen, und immer waren sie gerne bei ihm geblieben. Mangel hatte er nie gelitten. Und Elsa, ja, die hätte er sofort geheiratet. Er hatte schon Pläne geschmiedet. Gleich nach seiner Ausbildung hätte er um ihre Hand angehalten. Ihr Alter hätte schon irgendwann ja gesagt, der mochte ihn doch, auch wenn Hans ihm gar zu sehr um die kostbare Tochter herum scharwenzelte. Hau ab, du Nichtsnutz, hatte er gerufen, aber der Tonfall hatte gestimmt. Und dann war sie tot, weil ein betrunkener Lastwagenfahrer sie und ihr Fahrrad übersah. Einfach so, weg für immer. Deshalb hatte er nicht ihre Hand gehalten, sondern nur eine Blume, die er in ihr Grab geworfen hatte. 1947 war das gewesen. Nie wieder seinen Kopf neben den ihren betten. Nie wieder gemeinsam im Himmel die Wolken verfolgen. Nie wieder ihre Lippen küssen. Nie wieder die Sommersprossen zwischen ihren Augen zählen. Nie wieder ihr Kichern hören, während er sich an den Knöpfen ihrer Bluse abmüht. Nie wieder ihre Brüste berühren. Nie wieder bei ihr in ihr sein. Nie wieder ihren Geruch in seinen Hemden finden.

„Guten Tag, hier ist das St. Vincentius Seniorenstift, spreche ich mit dem Sohn von Herrn Reisinger?“
„Am Apparat.“
„Ihr Vater ist verschwunden.“
„Wie bitte?“
„Er ist heute Morgen nicht in seinem Zimmer gewesen, als wir ihn wecken wollten. Bisher ist er noch nicht zurückgekehrt. Wir sind ja keine geschlossene Einrichtung, Ihr Vater ist ein freier Mann. Aber wir dachten uns, dass Sie das wissen sollten.“
„Hat er keine Nachricht hinterlassen?“
„Leider nein. Aber eventuell gibt es einen Zusammenhang mit dem Fernbleiben einer Kollegin. Sie ist heute nicht zur Arbeit erschienen und hat sich nicht bei uns abgemeldet. Ihr Vater hat wohl Interesse an ihr gezeigt, sie wurden öfter miteinander gesehen.“
„Jutta?“
„Sie wissen davon?“
„Eigentlich nicht.“
„Wir können Jutta gerade nicht erreichen. Wenn Sie etwas von Ihrem Vater hören, informieren Sie uns bitte? Wir halten Sie selbstverständlich ebenfalls auf dem Laufenden.“

Weil er für sie gesungen hatte, damals am Belzower See, hatte sie ihn ihren Troubadour genannt. Und auch für seinen Gesang hatte sie ihn geliebt. Wusste sein Sohn eigentlich, welche Macht eine schöne Stimme auf Frauen ausübt? Später hatte sie mit einem Kohlestift auf seinen Rücken geschrieben, was sie gerade in einem Buch gelesen hatte. Omnia vincit amor – Liebe besiegt alles. Er hatte es empfunden wie einen Schwur, und obwohl das Wasser des Sees die Buchstaben bald fortgespült hatte, spürte er die Lettern zwischen seinen Schulterblättern bis zum heutigen Tag.

Jetzt sind sie am Belzower See angelangt. Ein Flirren und Surren über dem Wasser in der Schwüle des Nachmittags. Sie stehen genau an der Stelle, die vor mehr als sieben Jahrzehnten nur er und Elsa teilten. Er kannte hier noch jeden Stein am Weg, den Pfad zwischen den hohen Bäumen hatte er sofort gefunden. Am Ende zwischen einigen Büschen hindurch, hin zum Wasser, wo noch immer dieses Fleckchen Gras wuchs, dem die Zeit nichts hatte anhaben können.
„Ich danke dir, dass du mich hierhergebracht hast, Jutta.“
„Hab ich gerne gemacht. Und ich will kein Geld von dir. Das wollte ich noch nie.“
„Aber so hatten wir es vereinbart.“
„Nein, so hattest du es gewünscht.“
„Aber du riskierst viel. Du könntest deinen Job verlieren.“
„Das glaube ich nicht.“
„Und du erinnerst dich, dass ich noch einen anderen Wunsch habe? Und du willst trotzdem kein Geld?“
„Jetzt rede nicht mehr von Geld. Ich tue es für dich und für mich.“
Sie beginnt anmutig, ihre Kleider abzustreifen. Er tut es ihr nach, und sie hilft ihm dabei. Beide legen sich auf das Gras und er bettet seinen Kopf neben den ihren. Gemeinsam verfolgen sie die Wolken im Himmel. Dann richtet er sich auf, stützt sich auf seinen Ellenbogen und betrachtet sie. Während sein Blick über ihren prachtvollen Körper wandert, sagt er:
„Du bist so jung und ich bin so alt.“
„Du bist jünger als mein letzter Freund, und der war achtunddreißig.“
„Achtunddreißig? Mein Gott, wenn ich noch einmal so jung wäre, würde ich dich tagelang vögeln.“
Er schaut in seinen Schoß und meint bedauernd:
„Der liebe Gott hat mir das Können genommen. Jetzt soll er mir auch das Wollen nehmen.“
Und während seine zitternde Hand über ihre Beine gleitet, von unten bis ganz nach oben, wo sie in der Beuge verharrt, streichelt sie ihn, bis sie überrascht kichert und in sein Ohr flüstert:
„Mir scheint, der liebe Gott erweist dir und mir gerade eine Gunst … “

Jutta ist eingeschlafen. Und auch er selbst ist plötzlich so müde geworden, natürlich, nach all der Aufregung, der Hitze zu Johannis. Als er selbst fast eingeschlafen ist, ruft plötzlich jemand seinen Namen. Er schreckt hoch und sieht Elsa im Wasser, die ihm fröhlich zuwinkt. So jung und so hübsch. Und während er noch gebannt zu ihr schaut, ruft sie: Na, was ist? Kommst du noch ins Wasser, du Nichtsnutz, oder kannst du nicht schwimmen? Mit der Hand schlägt sie ins Wasser und spritzt eine Fontäne in seine Richtung. Er springt auf und droht ihr lachend mit der Faust: Na warte, du Früchtchen, wenn ich dich kriege, dann werde ich dich ordentlich tauchen, du, und er hechtet mit einem kühnen Kopfsprung ins Wasser hinein, schwimmt in kräftigen Zügen zu ihr und umarmt sie. Sie küssen sich, versinken im gurgelnden Wasser und das Licht des Abends schmilzt in Wellen aus Silber, die über ihm zusammenschlagen.

„Guten Tag, spreche ich mit dem Sohn von Hans Reisinger?“
„Ja.“
„Hier ist Jutta.“
„Ich weiß.“
„Es tut mir so leid, was passiert ist.“
„Ja.“
„Wir waren am See und ich war nur kurz eingeschlafen. Als ich erwachte, lag er im Wasser. Dabei hatte er mir versprochen, nicht hinein zu gehen. Ich brachte ihn zurück ans Ufer. Ich konnte ihm nicht mehr helfen. Auch der Notarzt konnte nichts mehr für ihn tun. Das Herz, meinte er.“
„Ja. Die Obduktion hat es bestätigt.“
Jutta zögert.
„Er hat viel erzählt. Und er hat viel von Ihnen gesprochen. Er muss sie sehr geliebt haben.“
„Ich war sein einziges Kind.“
„Ihr Vater hat mich gebeten, mich Elsa nennen zu dürfen. Wegen seiner großen Liebe in seiner Jugend. Sie hieß Elsa. Wussten Sie davon?“
„Nein.“
„Wenn Sie möchten, erzähle ich Ihnen mehr von Ihrem Vater. Es war sein Wunsch. Wir könnten uns treffen.“
Der Sohn zögert kurz und sagt dann:
„Ja, Jutta, das können wir gerne tun.“

 

***

 

(Veröffentlichung in der Anthologie zum Berliner Literaturpreis “Wortrandale 2019”, Thema “Wenn im Norden das Licht schmilzt”)

Angelegenheiten bedacht gewählter Worte

Erzählt sei die Geschichte des jungen Arztes Maximilian van Mechow, der am 23. September 1891 in der Pathologie der Berliner Charité eine dem Befund nach unerklärliche innere Leichenschau durchführte.
Van Mechow obduzierte den Körper eines Wilddiebs und Mörders, der kurz zuvor im Landarbeits- auch Zucht- und Irrenhaus von Altstrelitz verstorben war. Wie dem Bericht des überstellenden Gefängnisarztes zu entnehmen war, sei der Wilderer Hanke plötzlich während des Hofgangs zusammengebrochen und habe, die Hände in seine Nierengegend gepresst, derart vor Schmerzen geschrien, dass man zunächst an ein gespaltenes Gemüt gedacht habe. Später, als die Kräfte ihn verließen, habe Hanke, bezeugt von zwei Wärtern, Verse in einer nicht verständlichen Sprache gemurmelt. Gleichzeitig habe Hanke begonnen, stark aus den Augen zu bluten.
Wohl an dem Blutverlust, vielleicht aber auch durch verborgene Geschehnisse in corpore, sei er schließlich am gleichen Tage in der Abendzeit verstorben. Man sei zwar aufgrund der Insassen des eigenen Hauses mit den Abwegigkeiten menschlichen Irrsinns hinreichend vertraut, doch sei der Fall insgesamt so ungewöhnlich, dass man nun um die profunde Expertise der Doctoren und Excellenzen des Königlichen Charité-Krankenhauses zu Berlin bat, dies umso mehr, da einige Wochen zuvor auf nahezu identische Weise das Leben des Wilderers Schwarz geendet hatte, dem Spießgesellen Hankes. Dieser habe ebenfalls und aufgrund des gleichen Deliktes – dem gemeinschaftlich begangenen Mord an Hegemeister Breuker aus der Herzoglichen Domäne Teschendorf, so geschehen im Sommer 1886 am Wanzkaer See westlich von Blankensee – in selbigem Altstrelitzer Zuchthaus eingesessen. Der Wilderer Schwarz sei schon beerdigt worden, doch der zweite Todesfall in nunmehr kurzer Zeit habe zu großer Nervosität im Zuchthaus geführt. Umso dringlicher und unter Versicherung des allerhöchsten Respekts gegenüber den Ärzten aus der Reichshauptstadt sei das Ansinnen um kollegiale Unterstützung zu verstehen, von der man sich eine medizinische Erklärung erhoffte.
Van Mechow vermutete aufgrund der gelblich braunen Haut des Toten ein Versagen der Nieren. Er öffnete den Leib und durchtrennte mit einer Säge Brustbein und Rippen. Mit großer Sorgfalt entnahm er die inneren Organe sowie die großen Gefäße und betrachtete sie. Der Befund war in toto unauffällig, bis er zu den Nieren vordrang und erschrak. Er rief seine Kollegen, die in die Bauchhöhle des Wilderers schauten und sich bekreuzigten. Die Nieren des Wilderers waren verbrannt. Kohleartig trocken und schwarz staubend zerfielen sie unter den behutsamen Händen van Mechows.
Später öffnete van Mechow den Schädel des Verstorbenen und stellte fest, dass der Sehnerv von der Netzhaut abgetrennt war, als sei er mit stumpfer Kraft abgerissen worden. Der Glaskörper selbst war jedoch unversehrt geblieben, ebenso die sie umgebende Uvea und die Tunica interna bulbi.
Van Mechow, von gesegneter Nervenstärke und nicht übermäßig von den vielfältigen Abgründen menschlichen Sterbens erschüttert, verfasste ein Schreiben an den zuständigen Arzt des Landarbeits- auch Zucht- und Irrenhauses von Altstrelitz, das aufgrund des darin festgehaltenen erratischen Befundes solcherart Wellen schlug, dass das Documentum schließlich sogar den Weg auf den Schreibtisch seines obersten Dienstherrn, Rudolf Virchow, fand. Dieser bat persönlich noch einmal um einen Vortrag der sonderbaren Ergebnisse und ließ später die derart auffälligen Präparate – zwei von innen heraus zerstörte Nervi optici und zwei Briefchen Asche – seiner pathologisch-anatomischen Sammlung zuführen, wo sie bis zum heutigen Tage bestaunt werden können. Die inneren Verletzungen des Wilderers blieben unerklärlich.

Mehr als zwei Jahrzehnte später wurde van Mechow wieder an den seltsamen Tod des Wilderers erinnert, als er – mittlerweile zum ärztlichen Direktor einer Klinik in Potsdam berufen, glücklich verheiratet und mit fünf Kindern gesegnet – im September 1912 anlässlich einer Gesellschaftsjagd am Tollensesee verweilte. Obgleich seit Wochen von einem fiebrigen Infekt geplagt, hatte er sich dieses Jagdvergnügen am Wochenende nicht nehmen lassen wollen.
Man hatte eine fabelhafte Strecke von Rehen und Schwarzwild verblasen, und als man abends im Liepser Schlösschen zu Prillwitz in waidmännischer Eintracht und großer Runde zusammensaß, mit Treibern und Jägern bei einem deftigen Eintopf mit viel Einlage und dazu einem Selbstgebrautem, kam das Gespräch auf das Metier des Försters zu sprechen, der beständig gewahr sein müsse, seinem Erzfeind, dem Wilderer zu begegnen. Jeder wusste ein Schurkenstück zu berichten, und van Mechow dachte an den Wilderer, den er vor langer Zeit obduziert hatte. Ungute und überraschend klare Erinnerungen stiegen in ihm empor wie Fäulnisgase im Sumpf. Den Förster Uhland zu seiner Linken, einen gestandenen Reviermann mit klarem Blick, fragte er also:
„War es nicht hier in dieser Gegend, dass einmal ein Hegemeister namens Breuker zu Tode kam durch die Wilderer Hanke und Schwarz?“
Förster Uhland zuckte zusammen:
„Ja, in der Tat. Es ist sehr lange her. Und es ist erstaunlich, dass Sie sich noch daran erinnern. Breuker hatte den beiden damals schon lange nachgestellt, und deshalb brachten sie ihn um. Wie einige aus dem Dorfe berichteten, habe man in jener Nacht im Norden ein kaltes Licht aufblitzen sehen und es gleich für ein schlechtes Zeichen gehalten.“
„Es wird ein Wetterleuchten gewesen sein.“
„Aber es gab weit und breit kein Gewitter.“
Van Mechow winkte ab:
„Es sind Dörfler, gefangen in ihrem Aberglauben. Man sollte nicht zu viel hineinlesen. Wie genau kam Breuker zu Tode?“
„Aus dem Hinterhalt schossen sie ihm mit einem Drilling eine Ladung Schrot in die Nieren.“
Van Mechow beugte sich nach vorn:
„In die Nieren, sagen Sie? Das ist interessant. Wissen Sie, der Zufall wollte es, dass ich einen der beiden Mörder obduzierte. Daher ist mir der Fall vertraut. Hanke starb an vollends zerstörten Nieren. Auch Schwarz soll auf ähnliche Weise zu Tode gekommen sein.“
Förster Uhland winkte kaum überrascht ab:
„Nun, so ist es wohl die gerechte Strafe. Es waren rohe Gesellen. Wie die Tiere hausten sie in ihrer Kate im Wald, hier ganz in der Nähe. Gelegentlich tauchten sie in den Dörfern auf, drangsalierten die Bauern, stahlen Essen oder belästigten die Frauen. Notorische Verbrecher, das waren sie. In Groß Nemerow haben sie ein Hausmädchen auf obszöne Weise genötigt und fast zu Tode gewürgt, dabei war es noch ein Kind. In Stargard nagelten sie junge Katzen an einen Staketenzaun. Den Pastor von Möllenbeck knüppelten sie nieder. Seine Ziegen und Hühner haben sie erschlagen, aus purer Lust am Töten.“
„Warum hat sich niemand dagegen gewehrt?“
Der Förster schwieg eine Weile, das Thema schien ihm nicht zu behagen. Van Mechow beschloss, nicht zu insistieren, doch Förster Uhland meinte schließlich:
„Es ist schon lange her. Die Menschen hatten Angst. Und sie haben noch immer Angst.“
„Wovor? Hanke und Schwarz sind längst tot.“
Förster Uhland schaute van Mechow mit prüfendem Blick in die Augen:
„Der Hanke behauptete damals, er sei im Besitz des sechsten und siebenten Buches Mosis.“
„Tatsächlich?“
Van Mechow verzog belustigt das Gesicht. Von dem Buch hatte er schon einmal zu seinen Studienzeiten gehört. Es galt als ein verrufenes Grimoire okkulter Sprüche, als kabbalistisches Vielerlei und satanisches Traktat, als eine entfesselte Magie der Worte. Aus dem Mittelalter sollte es stammen, doch es könnte angeblich noch viel älter sein, vielleicht stamme es gar aus den Papyri Graecae Magicae des vierten Jahrhunderts. Damals, im akademischen Circulum, hatte es geheißen, mit dem Buch könne man Krankheiten heilen, Frauen schwängern, Wolllust wecken und Feinde verfluchen.
Förster Uhland war nicht entgangen, dass der Doktor aus Potsdam amüsiert war, doch er blieb ernst:
„Es gibt niemanden mehr bei uns im Dorfe, der darüber lacht, Herr van Mechow.“
„Verzeihen Sie, ich wollte nicht respektlos erscheinen.“
„Fritz Breuker, der Sohn des alten Hegemeisters, hat endlich als junger Forstanwärter die Mörder seines Vaters im Ziemenbachtal verhaften können.“
„Und so kamen die beiden ins Zuchthaus von Altstrelitz.“
„So ist es. Allerdings erzählt man sich, dass der junge Breuker über das allzu milde Urteil des Güstrower Schwurgerichts sehr erbost war. Die Hinrichtung mit dem Beil hatte er den Mördern seines Vaters sprichwörtlich an den Hals gewünscht. Doch die beiden Verbrecher beriefen sich darauf, dass sich der Schuss versehentlich gelöst habe.“
„Was geschah dann?“
„Ich weiß nicht recht, ob es gottgefällig ist, über solche Dinge zu sprechen.“
„Ich bitte Sie, erzählen Sie!“
Förster Uhland stürzte sein Glas, winkte der Bedienung für ein Neues, schaute den Arzt aus Potsdam lange an und seufzte schließlich:
„Dort, wo es an Ausleuchtung mangelt, sprießen Fragen wie Pilze in einer feuchten Sommernacht, nicht wahr? So will ich Ihnen etwas Helligkeit verschaffen, auch wenn nicht alle Geschehnisse rund um den abscheulichen Mord am Hegemeister restlos aufgeklärt werden konnten. Viel Hörensagen ist dabei.“
„Nun, Gerüchte haben oft einen wahren Kern.“
Förster Uhland nickte nachdenklich:
„Man erzählt sich, dass Fritz Breuker dem Hanke das sechste Buch Mosis abgenommen hat, welches dieser in seiner Tasche bei sich trug. Auch wir haben natürlich vom seltsamen Sterben der Förstermörder im Altstrelitzer Zuchthaus gehört. Bei uns im Dorf denkt seit diesen Tagen jeder, dass der junge Breuker sich in den alten Sprüchen versucht hatte.“
Der Förster senkte die Stimme:
„Angeblich hat ihm der alte Apotheker aus Punschendörp geholfen, die Zutaten für einen Zauber zu besorgen. Im Gegenzug hat ihm der Fritz wohl versprochen, dass er ihn mithilfe des Buches von der Französischen Krankheit befreien könne.“
„Von der Lues? Wie soll er das angestellt haben? Das ist schlicht unmöglich.“
Jetzt flüsterte der Förster nur noch, obwohl niemand ihrer Konversation folgte, im Gegenteil, die Umsitzenden am Tisch stimmten in prächtiger Laune ein Loblied auf den Heiligen Hubertus an, so dass van Mechow die Worte des Alten kaum verstand:
„Man muss sich eingraben. Bis zum Hals muss man nackt und eine Nacht lang in Pferdeäpfeln stehen.“
„Und dann?“
„Dann, heißt es, sei es eine Angelegenheit bedacht gewählter Worte. Worte, die in eben jenen Büchern stehen.“
„Aha.“ Van Mechow schwieg, wider Willen beeindruckt. Weil die Neugier in ihm zu stark war, fragte er:
„Hat das Sprüchlein beim Apotheker gewirkt?“
Förster Uhland kratzte sich am Bart:
„Vielleicht. Sie wissen ja, man erzählt sich vieles. Angeblich zeugte er noch im hohen Alter ein Kind mit der buckligen Magd des Nachbarn, gepriesen als Wunder des späten Augustsaftes, und das klaffende Syphilitenloch auf seinem Nasenrücken sei verschwunden.“
„Das ist mehr als erstaunlich! Man müsste ihn der Charité vorstellen!“
„Er lebt nicht mehr, er starb vor einigen Jahren.“
„Und der junge Breuker?“
„Auch er ist tot.“
„Woran starb er?“
„Vielleicht an seinen eigenen Versen? Sei er gewiss, ich bin selbst kein abergläubischer Mensch. Auch meine Mutter war es zeit ihres Lebens nie. Doch sie sagte mir, dass dies ein Buch ist, das man nicht anfassen sollte. An diesem Buch sei nichts Gutes, und wer die Schöpfung versucht, wer namenlose Kräfte weckt, in dem er sie beschwört, muss immer damit rechnen, dass die Kräfte sich gegen den Recitator der Formeln selbst richten, sofern sie nicht mit genügender Inbrunst und einer tiefen Verkommenheit der Seele ausgestoßen werden.“
„Was ist mit dem jungen Breuker geschehen?“
„Er hat sich vor neun Jahren umgebracht. Jahrelang bekamen er und seine Frau keine Kinder, obwohl sie sich sehnlichst eines wünschten. Dann brachte seine Frau innerhalb von einem Jahr zwei Jungen tot zur Welt, denen die Köpfe fehlten. Breuker erschoss sich mit der Jagdwaffe seines Vaters.“
„Hat man denn das sechste und siebente Buch Mose bei ihm gefunden?“
„Ja. Ein zerlesenes Pamphlet voll wüster Kritzeleien, Rezepturen und Verse, gebunden in rotes Leder. Es war nur der erste Teil vorhanden, also das sechste Buch. Ein Knecht, der es mit seinen Fingern berührte, erlitt eine Blutvergiftung in der Hand.“
„Das wird ein Zufall gewesen sein. Die Sepsis ist die Berufskrankheit der Knechte wie der Gerber. Gibt es das Buch noch?“
„Nein. Wir trugen es mit einer Schaufel in den Kirchhof und verbrannten es dort.“
Van Mechow war gebannt von den Schilderungen, die seinem Streben nach der Vernunft aller Dinge zuwider liefen:
„Und das siebente Buch Mosis? Wo ist es verblieben?“
Förster Uhland hob abwehrend die Hand:
„Befassen Sie sich nicht damit. Es wird Ihnen kein Glück bringen. Niemandem hat es Glück gebracht.“
„Hat man das fehlende Buch gefunden?“
„Nein. Es hat auch niemand danach gesucht.“
„Wo genau befindet sich denn die Kate der Mordbuben? Sie sagten, es sei hier ganz in der Nähe gewesen?“
„Ihr Unterschlupf ist nicht weit von hier gelegen, gerade gegenüber von hier über die Lieps hinweg auf der Halbinsel Nonnenhof am Nordufer, wohl am Bacherswall. Aber Sie sollten nicht dorthin gehen, Herr van Mechow. Es ist kein guter Ort. Unweit liegen die Gräulichen Gruben, wo man früher die Pesttoten ablud. Und angeblich stand  dort vor ewigen Zeiten Riedegost, die Tempelburg der Slawen. Es soll dort spuken. Es heißt, dass dort nicht einmal Vögel brüten.“
Van Mechow winkte ab:
„Seien Sie beruhigt. Ich bin ein Mann der Wissenschaft, nicht des Hokuspokus.“
Der alte Förster war erleichtert, und später, als infolge zugesprochenen Alkohols die Herrschaften müde wurden, verabschiedeten sie sich voneinander und zogen sich in ihre Schlafräume des Schlösschens zurück.

Am nächsten Morgen erwachte van Mechow früh. Die Kutsche zur Bahnstation in Blankensee würde nicht vor Mittag eintreffen, und so konnte er doch, entgegen seiner Worte des Vorabends und entgegen seiner hartnäckigen Erkältung, der Neugier nicht widerstehen. Ohne zu wissen, was ihn in der sicherlich längst verfallenen Kate der Wilderer und Mörder erwarten sollte, so er sie überhaupt entdecken sollte, begab er sich auf den Weg.
Die Sonne schob sich schnell am Himmel aufwärts, ihm wurde warm. Auch merkte er jetzt wieder das leichte Fieber seines Katarrhs, das ihn nicht loslassen wollte, so dass er zu schwitzen begann. Zwischen Kiefern hindurch führte ihn sein Weg am Ufer entlang eines Gürtels aus mannshohem Schilfgras, das gelegentlich von modrigen Stegen durchbrochen war. Im Rund breitete sich die Lieps vor ihm aus, das Inselchen Kietzwerder zu seiner Rechten ließ er schnell hinter sich. Die Wiesen waren aufgeweicht, leise gurgelte es unter seinen Schritten.
Mücken ließen sich auf van Mechow nieder und versenkten ihre Stachel in seiner Haut. Über ihm in den Spitzen des Röhrichts wippten Rohrkolben im Spiel der Windböen, umschwirrt von Libellen. Bachstelzen und Kiebitze riefen ihm, aufgebracht ob der Störung und unsichtbar im Dickicht, ihre Beschimpfungen zu, eine aufgescheuchte Blässralle schrie ihn wütend an, verfolgt von einer Schar zerzauster Küken, schnell verschwand sie mit ihrer Brut in Binsen, Schwertlilien und Kalmus. Frösche glitten glucksend von Seerosenblättern. Einige Male war ihm, als sei hinter ihm ein Geräusch zu vernehmen, ein Knacken von Zweigen, das Rascheln alter Blätter. Doch wenn er innehielt, so war nichts mehr zu hören. Also ging er weiter, bis er den Alten Graben erreichte, hinter dem sich die bewaldete Halbinsel anschloss. An einer seichten Stelle überquerte er den Graben und wanderte am Ufersaum entlang zur Spitze der bewaldeten Landzunge.
Doch so lange er auch jenseits des Schilfs suchte, er konnte keine Kate entdecken. Also zwängte er sich weiter durch das Unterholz, das nordwärts in eine Senke führte, und als er wieder besser voraus schreiten konnte, wurde es still. Vögel verstummten, sogar das Spiel der Wellen verlor sein Glucksen, und der Wind raschelte nicht mehr in den Blättern. Plötzlich fuhr zwischen den Blättern der Bäume hindurch ein gleißender Strahl in seine Augen und blendete ihn. Ihm war, als tropfe Licht schmelzend an den Zweigen herunter. Es fiel auf seine Schultern und wurde ihm zu einer Angst, die ohne Namen war. Etwas strich vor ihm über seinen Weg, kaum mehr als ein Schemen. Es berührte ihn eisig an der Brust und van Mechow erschrak heftig. Er geriet ins Stolpern, hielt sich an einem jungen Trieb fest, der nachgab und ihn stürzen ließ. Er rollte die Senke hinab und schlug hart mit dem Kopf auf.
Als van Mechow wieder zu Bewusstsein gelangte, bemerkte er, dass er in einem Geviert verrotteter Balken lag, umgeben von totem Schilf, das wohl einmal zu Reetgarben gebunden war. Sein Kopf war gegen einen Stein geschlagen, seine Stirn blutete. Als er den Stein wütend wegstieß, fasste er darunter in eine graue Masse zerfaserten Papiers inmitten roten Leders. Van Mechow sprang auf, wischte angeekelt seine Hand ab und rannte zum Forsthaus zurück. Dort verband man seinen Kopf. Später brachte ihn der Kutscher zum Bahnhof. Gegen Abend erreichte er sein Zuhause. Seine Frau erschrak ob der Kopfverletzung, doch van Mechow winkte nur erschöpft ab und ging zu Bett. Am nächsten Morgen schauten die Kinder in das elterliche Schlafzimmer, um nach dem Befinden des werten Herrn Vaters zu schauen, doch van Mechow wachte nicht mehr auf.
Man führte sein Ableben auf die allgemeine körperliche Überlastung und ein verschlepptes Lungenleiden zurück. Einige Tage später ließ seine Witwe eine Traueranzeige veröffentlichen, und sie entschied sich für einen Bibelvers aus dem zweiten Buch Mose, Kapitel 23, Vers 20: Ich aber will einen Engel vor dir einhergehen lassen um dich unterwegs in meine Hut zu nehmen und ich will dich mit einem Licht an die Stätte geleiten, die ich festgesetzt habe.

 

***

(Publikumspreis beim Berliner Literaturpreis „Wortrandale 2019“, Thema „Wenn im Norden das Licht schmilzt“)

Das erste Kind des polnischen Maschinisten

Verfluchte Hundewache. Kaum eingeschlafen, schrecke ich schon wieder aus meiner Koje hoch. Eine Hand liegt auf meiner Schulter und rüttelt mich durch, untermalt von einem Flüstern: „Reise, Reise, du Penner.”
Gefreiter Sigmund grinst mich mit eingeschlafenen Gesichtszügen an. Er ist so grün wie das Erbsenpüree, das ich gestern Abend als Backschafter in die Teller gekellt habe. Sein saurer Atem macht mich wach, unwillig schiebe ich ihn weg:
„Sigmund, blöder Schwabe, kotz’ mir nicht wieder in die Koje!”
Er rülpst nur, malade fällt er in die schmale Schlafstätte unter der meinen. Als ich aus meiner Koje steige, sehe ich ihn da unten liegen und mit seiner Übelkeit ringen, das Leiden Christi für 330 Mark monatlichen Sold plus Bordzulage. Das Rotlicht unserer Nachtbeleuchtung lässt hinter seinen Ohren diverse Pflaster schimmern, die dem Seegang auf Dauer nichts entgegenzusetzen haben. Sigmund ist schon eingeschlafen, bevor ich meinen Arbeits- und Gefechtsanzug angezogen habe, die Seestiefel hat er gar nicht erst abgestreift. In den beiden anderen Kojen schnarchen Nielsen und Zelinski im Rhythmus des Rollens und Schlingerns, das seit drei Tagen anhält, während die Wellen unser Schiff durch die wühlige Ostsee schieben. Die Hälfte der Stammbesatzung ist wegen Seekrankheit ausgefallen, vom EloKa- Personal im Funkraum, sonst an Land eingesetzt, sind nahezu alle außer Gefecht gesetzt. Eigentlich ist unser Auftrag die fernmelde-elektronische Aufklärung der Ostseeanrainer des Warschauer Pakts, also Funküberwachung auf allen Kanälen. Doch das ist uns nur noch in homöopathischen Dosen möglich. Die Bordwand unserer Leeseite schimmert schleimig und ist derart vollgereihert, dass der Kalte Krieg ohne uns stattfindet.
Ein Drittel der Menschen wird ab einer bestimmten Dünung immer seekrank. Ein Drittel manchmal. Ein Drittel nie. So stellte es gestern beim Abendbrot Stabsarzt Brachmann während seiner vierten Blutwurststulle genüsslich fest. Auch ich gehöre zum letzten Drittel, deshalb helfe ich in der Pantry mit aus und gehe auf Wache im Funkraum, wenn dort Plätze notmäßig zu besetzen sind. Ich bin Fernmeldeaufklärer, Verwendungsreihe 22, Zeitsoldat, und ich kann bis zu 24 Wörter pro Minute fehlerfrei hören und mitschreiben, an guten Tagen auch schneller. Mit 16 Wörtern pro Minute morst die NATO. Aber die NATO ist faul, meist wird der Fernschreiber benutzt. Die Geschwindigkeit gibt an, wie oft das Wort „Paris” in einer Minute getastet werden kann. Die Buchstaben des Wortes Paris lauten kurz-lang-lang-kurz, kurz-lang, kurz-lang-kurz, kurz-kurz, kurz-kurz-kurz.
Unser Schiff ist die Alster, Korvettengröße, insgesamt gut 80 Mann Besatzung. Wir sind auf Jungfernfahrt des modernsten Bootes der NATO, heute ist der 2. Dezember 1989. Vorgestern habe ich ein Fernschreiben auf die Brücke gebracht, in dem stand, dass die RAF den Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, mit einer Lichtschrankenbombe in die Luft gesprengt hat. Bewegte Zeiten, auch an Land. Auf der Brücke hat man die Information zur Kenntnis genommen und der IWO hat mich für meine vergessene Meldung „Auf Brücke” gerügt.
Ich trete auf den Gang, überall der zarte Hauch von Erbrochenem. Ein Blick auf die Uhr, in zehn Minuten muss ich mich oben in der Pantry melden, die Morgenwache bekommt ihren Kaffee und frische Brötchen. Sigmund hat mich wie immer zu früh geweckt, um seinen eigenen Schlaf zu verlängern. Es ist noch Zeit für eine Zigarette. Ich gehe zum Schott des Achterdecks und trete hinaus an die Reling. Gerade steigt voraus die Sonne empor, ein Rausch an Rottönen, Gold und Orange, in dem sich fliederfarben und silbern die Gischt unserer Bugwelle bricht. Basstölpel und Möwen ziehen kreischend durch den zerfetzten Himmel, der mich mit Feuchtigkeit umhüllt und am Horizont mit dem Quecksilber der Wellen verschwimmt. Ich rauche einige Züge, Böen reißen den Qualm aus meinem Mund. Auf unserer Backbordseite fährt wie immer unser Bewacherschiff von der Volksmarine der Nationalen Volksarmee neben uns her, ein Minensucher der 6. Grenzbrigade Küste. Pünktlich wie die Maurer sind sie aufgetaucht, kurz hinter Lübeck, man hatte das neue Schiff aus dem Westen schon erwartet. Permanent ist ein Fernglas auf uns gerichtet, kaum mehr als 20 Meter von uns entfernt. Jetzt bin ich im Fokus des Beobachters. Ich schnippe meine Zigarette in die Wellen und winke hinüber. Ich kann ihn gut erkennen, den Unteroffizier der Volksmarine, er ist jung, trägt einen Schnurrbart, dunkle Haare, und er winkt nicht zurück.
In der Pantry versehe ich meinen Dienst. Später bin ich im Funkraum eingesetzt, man setzt mich auf ein Netz polnischer Marineflieger, in dem Manövervorbereitungen mit verschlüsselten Triple-X-Sprüchen erwartet werden. Unangenehme Arbeit, die mich wach hält, denn Morsesprüche aus Flugzeugen plätschern unberechenbar, sie sind mal überhastet und mal tröpfelnd, wie der Harnstrahl eines alten Mannes.
Die Arbeit ist dieselbe wie in unserer Landdienststelle, dem Fernmeldestützpunkt 71 in Mürwik bei Flensburg. Dort befinden sich 40 Arbeitsplätze unter der Erde, angeordnet in Viererboxen. Jeder Soldat hockt mit Kopfhörer vor einem Schrank von Funkempfängern mit seinen ganz persönlichen Einstellungen. Wenn es auf dem linken Ohr lospiept, können es Shipfrequenzen sowjetischer Schiffe in außerheimischen Gewässern sein. Wenn es auf dem rechten Ohr losdaddelt, ist es vielleicht ein Rundstrahldienst aus Kaliningrad mit einem Wetterspruch oder es ist der Sender Tallinn, Rufzeichen RCV4, der verschlüsselte Buchstaben- und Zahlengruppen in den Äther knallt. Verhasst sind uns allen die DDR-Funknetze. Dort morst man, als ewiger Streber des Ostblocks, mit größerer Geschwindigkeit, als nötig oder vorgeschrieben ist, vermutlich, um uns Klassenfeinde zu piesacken. Die Funksignale sind so schnell, dass man sie zwar hören, aber nicht mehr mitschreiben kann. Die Mechanik der Hand lässt es nicht zu. Solche Sprüche zeichnen wir mit dem Tonband auf und lassen sie mit halber Geschwindigkeit erneut ablaufen, um sie zu erfassen. In dieser Zeit gehen jedoch meist schon weitere Sprüche ein. Obermaat Hinrichs, der neulich schwitzend im Schapp neben mir saß und in höchster Not Seite um Seite mit nicht versiegen wollenden Signalen vollkritzelte, hat man währenddessen eine Plastiktonne Altpapier über dem Kopf entleert. Damals war er dem Nervenzusammenbruch nahe, doch jetzt, hier, an Bord der Alster, füllt er in aller Seelenruhe die Seiten seines Blocks. Auch er gehört zum dritten Drittel. Ansonsten ist der Funkraum fast leer. Es ist, als würde man in einem Fahrstuhl ohne Fenster arbeiten. Vier Meter rauf, vier Meter runter, tagein, tagaus. Nahezu alle Horchfunker sind ausgefallen und verfluchen den Tag, an dem sie sich für ein Bordkommando beworben haben.
Nach der Funkschicht bin ich noch einmal in der Pantry für Backen und Banken eingesetzt. Es ist Nachmittag und wird bereits dunkel. Als ich Essensreste aus der Pütz über Bord werfe, werde ich dabei fotografiert. Wir sind ein kostspieliger Club von Paranoikern, in dem sich Bewacher gegenseitig beim Bewachen bewachen. So vergehen die Stunden und Tage. Wir schippern an Kühlungsborn vorbei und den Darß entlang. Dort ist es so stürmisch, dass der Kommandant Stahlseile auf der Schanz verspannen lässt, in die wir uns mit Karabinerhaken einhängen. Es geht an Hiddensee und Rügens weiß leuchtender Küste vorbei, stoisch begleitet uns der Minensucher aus dem deutschen Osten wie ein stählerner Pilotfisch. Wolgast, dann Usedom, immer hart an der Hoheitsgrenze entlang.
Plötzlich taucht vor Swinemünde ein weiteres Schiff auf. Es ist ein polnisches Schnellboot. Offensichtlich soll es das Schiff der Volksmarine als Bewacherschiff ablösen. Und richtig, das DDR-Schiff dreht ab und nun fährt an Stelle des ostdeutschen Minensuchers ein polnisches Schnellboot neben uns her. Sie beobachten uns ebenfalls unablässig, während wir an Kolberg und an Stolpmünde vorbeidampfen. Auch an Bord des polnischen Schiffes steht ein Soldat und beobachtet uns mit dem Fernglas. Allerdings fotografiert er mich nicht, als ich wieder einen Eimer mit Essensresten in die Ostsee entleere. Als ich ihm zuwinke, schaut er sich kurz um, grinst und winkt verstohlen zurück.
Drei Tage lang begleiten uns die Polen an ihrer Küste entlang. Wenn wir halten, halten sie. Wenn wir beschleunigen, beschleunigen sie. Schließlich kommen wir vor die Danziger Bucht und passieren Gdingen und Danzig. Mithilfe der Karte, die oben auf der Brücke ausliegt, kann ich unseren Kurs gut verfolgen. Als Pillau vorausliegt, beschließt unser Kommandant, zu ankern. Ich stehe, wie so oft, auf dem Achterdeck und rauche, diesmal in Gesellschaft eines ergrauten Stabsbootsmannes, als an Bord des polnischen Schnellbootes Betriebsamkeit ausbricht. Schließlich tritt dort ein Offizier aus dem Schott der Brücke, ein Oberleutnant oder Kapitänleutnant, schwer zu sehen, es dämmert bereits. In der Hand hält er ein Megaphon. Sehr höflich und in exzellentem Deutsch bittet er unseren Kommandanten, den Anker noch einmal hoch zu nehmen und einige Seemeilen weiter ostwärts zu fahren. Dann müssten die Russen die Überwachung übernehmen und die Polen könnten endlich nach Hause fahren. Seit fünf Wochen seien sie jetzt schon bei diesem Sauwetter auf See. Und außerdem sei die Frau des ersten Maschinisten schwanger und erwarte täglich ihr erstes Kind. Unser Kommandant reagiert umgehend und richtet über sein Megaphon die besten Wünsche für den Nachwuchs aus. Einige Minuten später nehmen wir den Anker wieder auf, die gewaltige Kette rasselt durch die Klüse. Die Alster gibt Signal und fährt mit langsamer Fahrt weiter gen Osten. Schon nach einer Viertelstunde wird vor unserem Bug die weiße Gischtfahne eines uns ansteuernden Schiffes erkennbar. Ein Tragflügel-Schnellboot, Turya-Klasse, meint der Stabsbootsmann, mehr als 40 Knoten macht der, dem fahren wir nicht davon, aber hat ja auch keiner vor. Plötzlich höre ich von achtern das Krachen von Bordlautsprechern. Ich schaue noch einmal hinüber zum polnischen Boot. Dort haben sich auf dem Deck fünf Matrosen versammelt. Sie tragen nicht ihre sonst üblichen Bordanzüge, sondern ihre Ausgehuniformen. Es ist ein Dank an unseren Kommandanten, denn sie singen ein polnisches Marinelied für uns. Über die Bordlautsprecher dringt der krächzende Ton zu uns herüber wie ein verwaschenes Shanty.
Neben mir meint der Stabsbootsmann:
„Nicht schlecht, was? Aber ist nichts gegen früher. In den Siebziger Jahren sind wir auf hoher See auch längsseits gegangen und haben uns mit Tauen verzurrt. Wir rüber zu den Polen oder die Russen rüber zu uns. Dann wurde getauscht, Tittenhefte gegen Wodka und so. Kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Aber wer weiß, ist ja gerade viel los in der Welt, vielleicht wird’s auch mal wieder anders.”

* * *

(Erschienen in der Anthologie „Neue Prosa aus Schleswig-Holstein“ zum Literaturpreis Schleswig-Holstein 2018, Verlag Lumpeter & Basel, ISBN 978-3- 946298-09-0)