Angelegenheiten bedacht gewählter Worte
Am 23. August 1891 führte der junge Arzt Maximilian van Mechow in der Pathologie der Berliner Charité eine dem Befund nach unerklärliche innere Leichenschau durch.
Er obduzierte den Körper eines Wilddiebes, der kurz zuvor im Zuchthaus von Brandenburg an der Havel verstorben war. Wie dem Bericht des überstellenden Gefängnisarztes zu entnehmen war, sei der Wilderer Hanke plötzlich während des Hofgangs zusammengebrochen und habe derart vor Schmerzen geschrien, dass man zunächst an ein gespaltenes Gemüt gedacht habe. Später habe Hanke, bezeugt von zwei Wärtern, Verse in einer nicht verständlichen Sprache gemurmelt, als die Kräfte ihn verließen. Gleichzeitig habe Hanke begonnen, stark aus beiden Augen zu bluten.
Wohl an dem Blutverlust, vielleicht aber auch durch verborgene Geschehnisse in corpore, sei er schließlich am gleichen Tage in der Abendzeit verstorben, so dass man nun um die profunde Expertise der Doctoren und Excellenzen des Königlichen Charité-Krankenhauses zu Berlin bat. Dies umso mehr, da einige Wochen zuvor auf nahezu identische Weise das Leben des Wilderers Schwarz geendet hatte, dem Spießgesellen Hankes, der ebenfalls und aufgrund des gleichen Deliktes – dem gemeinschaftlich begangenen Mord an Hegemeister Breuker aus dem Dorfe Kreuzkrug, so geschehen im Frühjahr 1886 im Forst zwischen Templiner Fährsee und den Labüskewiesen – im Zuchthaus von Brandenburg eingesessen hatte. Der Wilderer Schwarz sei allerdings schon beerdigt worden, doch der zweite Todesfall in nunmehr kurzer Zeit habe zu großer Nervosität im Zuchthaus geführt, umso dringlicher sei das Ansinnen um kollegiale Unterstützung zu verstehen, selbstverständlich unter Versicherung des allerhöchsten Respekts der honorablen Ärzte aus der Reichshauptstadt.
Van Mechow vermutete aufgrund der gelblich braunen Haut des Toten ein Versagen der Nieren. Er öffnete den Leib und durchtrennte mit einer Säge Brustbein und Rippen. Mit großer Sorgfalt entnahm er die inneren Organe sowie die großen Gefäße und betrachtete sie. Der Befund war in toto unauffällig, bis er zu den Nieren vordrang und erschrak. Er rief seine Kollegen, die in die Bauchhöhle des Wilderers schauten und sich bekreuzigten. Die Nieren des Wilderers waren verbrannt. Kohleartig trocken und schwarz staubend zerfielen sie unter den behutsamen Händen van Mechows.
Später öffnete van Mechow den Schädel des Verstorbenen und stellte fest, dass der Sehnerv von der Netzhaut abgetrennt war, als sei er mit stumpfer Kraft abgerissen worden. Der Glaskörper selbst war jedoch unversehrt geblieben, ebenso die sie umgebende Uvea und die Tunica interna bulbi.
Van Mechow, von juveniler Nervenstärke und nicht übermäßig von den vielfältigen Abgründen menschlichen Sterbens erschüttert, verfasste seinen Bericht, der solcherart Wellen schlug, dass das Documentum schließlich sogar den Weg auf den Schreibtisch seines obersten Dienstherrn, Rudolf Virchow, fand, der persönlich noch einmal um einen Vortrag der erratischen Ergebnisse bat und später die derart auffälligen Präparate – zwei von innen heraus zerstörte Nervi optici und zwei Briefchen Asche – seiner pathologisch-anatomischen Sammlung zuführen ließ. Die inneren Verletzungen des Wilderers blieben unerklärlich.
Mehr als zwei Jahrzehnte später wurde van Mechow wieder an den seltsamen Tod des Wilderers erinnert, als er – mittlerweile zum ärztlichen Direktor einer Klinik in Potsdam berufen, glücklich verheiratet und mit fünf Kindern gesegnet – im September 1912 anlässlich einer Gesellschaftsjagd in der Schorfheide verweilte.
Man hatte eine fabelhafte Strecke von Rehen und Schwarzwild verblasen, und als man abends im Forsthaus Spring am Lübbesee in waidmännischer Eintracht und großer Runde zusammensaß, Treiber und Jäger bei einem Eintopf mit viel Einlage und dazu einem Selbstgebrautem, kam das Gespräch auf das gefährliche Metier des Försters zu sprechen, der beständig gewahr sein müsse, seinem Erzfeind, dem Wilderer zu begegnen. Jeder wusste ein Schurkenstück zu berichten, und van Mechow dachte an den Wilderer, den er vor langer Zeit obduziert hatte. Ungute Erinnerungen stiegen in ihm empor wie Fäulnisgase im Sumpf. Den Förster Uhland zu seiner Linken, einen gestandenen Reviermann mit weißem Bart, klarem Blick und entschlossenen Zügen, fragte er also:
„War es nicht hier in dieser Gegend, dass einmal ein Hegemeister namens Breuker zu Tode kam durch die Wilderer Hanke und Schwarz?“
Förster Uhland zuckte zusammen:
„Ja, das ist in der Tat wahr. Es ist sehr lange her. Und es ist erstaunlich, dass Sie sich noch daran erinnern. Breuker hatte den beiden damals schon lange nachgestellt, und deshalb töteten sie ihn. Aus dem Hinterhalt schossen sie ihm mit einem Drilling eine Ladung Schrot in die Nieren.“
Van Mechow beugte sich nach vorn:
„In die Nieren, sagen Sie? Das ist interessant. Wissen Sie, der Zufall wollte es, dass ich einen der beiden Mörder obduzierte. Daher ist mir der Fall vertraut. Hanke starb an vollends zerstörten Nieren. Von Schwarz weiß ich es nicht.“
Förster Uhland war nicht überrascht:
„Und wenn schon? So ist es wohl die gerechte Strafe. Es waren rohe Gesellen. Wie die Tiere hausten sie in ihrer Kate im Wald am Grauen Weiher. Gelegentlich tauchten sie in den Dörfern auf, drangsalierten die Bauern, stahlen Essen oder belästigten die Frauen. Notorische Verbrecher, das waren sie. In Milmersdorf haben sie ein Hausmädchen auf obszöne Weise genötigt und fast zu Tod gewürgt, dabei war es noch ein Kind. Den Pastor knüppelten sie nieder. Ziegen und Hühner haben sie erschlagen, aus purer Lust am Töten.“
„Warum hat sich niemals jemand dagegen gewehrt?“
Der Förster schwieg eine Weile, das Thema schien ihm nicht zu behagen. Van Mechow beschloss, nicht zu insistieren, doch Förster Uhland meinte schließlich:
„Sie müssen wissen, es ist schon lange her. Die Menschen hatten Angst. Und sie haben noch immer Angst.“
„Wovor? Hanke und Schwarz sind längst tot.“
Förster Uhland schaute van Mechow mit prüfendem Blick in die Augen:
„Der Hanke behauptete, er sei im Besitz des sechsten und siebenten Buches Mosis.“
„Tatsächlich?“
Van Mechow verzog belustigt das Gesicht. Von dem Buch hatte er schon einmal zu seinen Studienzeiten gehört. Es galt als ein verrufenes Grimoire okkulter Sprüche, als kabbalistisches Vielerlei und satanisches Traktat, als eine entfesselte Magie der Worte. Aus dem Mittelalter sollte es stammen, oder könnte es angeblich noch viel älter sein? Damals, im akademischen Circulum, hatte es geheißen, mit dem Buch könne man Krankheiten heilen, Frauen schwängern, Wolllüste wecken und Feinde verfluchen.
Förster Uhland war nicht entgangen, dass der hohe Doktor aus Potsdam amüsiert war, doch er blieb ernst:
„Es gibt niemanden mehr bei uns im Dorfe, der darüber lacht, Herr van Mechow.“
„Verzeihen Sie, ich wollte nicht respektlos erscheinen. Was geschah dann?“
„Fritz Breuker, der Sohn des alten Hegemeisters, hat endlich als Forstanwärter die Mörder seines Vaters in der Buchheide verhaften können.“
„Und so kamen die beiden ins Zuchthaus von Brandenburg.“
„So ist es. Allerdings erzählt man sich, dass der junge Breuker über das milde Urteil des Templiner Gerichts sehr erbost war. Die Hinrichtung mit dem Beil hatte er den Mördern seines Vaters sprichwörtlich an den Hals gewünscht. Doch die beiden Verbrecher beriefen sich darauf, dass sich der Schuss versehentlich gelöst habe.“
„Was geschah dann?“
„Es ist viel Hörensagen dabei, und ich weiß nicht recht, ob es gottgefällig ist, über solche Dinge zu sprechen.“
„Ich bitte Sie dringlich, erzählen Sie!“
Förster Uhland stürzte sein Glas, winkte der Bedienung für ein Neues, schaute den Arzt aus Potsdam lange an und seufzte schließlich:
„Nun, der Fritz Breuker hat wohl dem Hanke das sechste Buch Mosis abgenommen, welches dieser in seiner Tasche bei sich trug. Auch wir haben natürlich vom seltsamen Sterben der Förstermörder im Brandenburger Zuchthaus gehört. Bei uns im Dorf denkt seit diesen Tagen jeder, dass der junge Breuker sich in den alten Sprüchen versucht hat.“
Der Förster senkte die Stimme:
„Angeblich hat ihm der alte Apotheker aus Lüderitz geholfen, die Zutaten für den Zauber zu besorgen. Im Gegenzug hat ihm der Fritz wohl versprochen, dass er ihn mithilfe des Buches von der Französischen Krankheit befreien könne.“
„Von der Lues? Wie soll er das angestellt haben? Das ist schlicht unmöglich.“
Jetzt flüsterte der Förster nur noch, obwohl niemand ihrer diskreten Konversation folgte, im Gegenteil, die Umsitzenden am Tisch stimmten ein launiges Loblied auf den Heiligen Hubertus an, so dass van Mechow die Worte des alten Försters kaum verstand:
„Man muss sich eingraben. Bis zum Hals muss man nackt in Pferdeäpfeln stehen.“
„Und dann?“
„Dann sei es eine Angelegenheit bedacht gewählter Worte.“
„Aha.“ Van Mechow schwieg, wider Willen beeindruckt. Weil die Neugier in ihm zu stark war, fragte er:
„Hat das Sprüchlein beim Apotheker gewirkt?“
Förster Uhland nickte:
„Offensichtlich. Er zeugte noch im hohen Alter ein Kind mit der buckligen Magd des Nachbarn, gepriesen als Wunder des späten Johannissaftes, und das klaffende Syphilitenloch auf seinem Nasenrücken verschwand.“
„Das ist mehr als erstaunlich! Man müsste ihn der Charité vorstellen!“
„Er lebt nicht mehr, er starb vor einigen Jahren.“
„Und der junge Breuker?“
„Auch er ist tot.“
„Woran starb er?“
„Vielleicht an seinen eigenen Versen? Wissen Sie, ich bin selbst kein abergläubischer Mensch. Und auch meine Mutter war es zeit ihres Lebens nie. Doch sie sagte mir, dass dies ein Buch ist, das man niemals anfassen darf. An diesem Buch sei nichts Gutes, und wer die Schöpfung versucht, wer namenlose Kräfte weckt, in dem er sie beschwört, muss immer damit rechnen, dass die Kräfte sich gegen den Recitator der Formeln selbst richten, so sie nicht mit genügender Inbrunst und einer tiefen Verkommenheit der Seele ausgestoßen werden.“
„Was ist mit dem jungen Breuker geschehen?“
„Er hat sich vor neun Jahren umgebracht. Jahrelang bekamen er und seine Frau keine Kinder, obwohl sie sich sehnlichst eines wünschten. Dann brachte seine Frau innerhalb von einem Jahr zwei Jungen tot zur Welt. Beiden Kindern fehlten die Köpfe. Er erschoss sich mit der Jagdwaffe seines Vaters.“
„Hat man denn das sechste und siebente Buch Mose bei ihm gefunden?“
„Ja. Ein zerlesenes Pamphlet voller wüster Kritzeleien, Rezepturen und Verse, gebunden in rotes Leder. Es war nur der erste Teil vorhanden, also das sechste Buch. Ein Knecht, der es mit seinen Fingern berührte, erlitt eine Blutvergiftung in der Hand.“
„Nun, es wird ein Zufall gewesen sein. Sepsis ist die Berufskrankheit der Knechte wie der Gerber. Gibt es das Buch noch?“
„Nein. Wir trugen es mit einer Schaufel in den Kirchhof und verbrannten es dort.“
Van Mechow war wie gebannt von den Schilderungen, die all seinem Streben nach der Vernunft aller Dinge zuwider liefen:
„Und das siebente Buch Mosis? Wo ist es verblieben?“
Förster Uhland hob warnend die Hand:
„Befassen Sie sich nicht damit. Es wird Ihnen kein Glück bringen.“
„Hat man das fehlende Buch gefunden?“
„Nein. Es hat auch niemand danach gesucht.“
„Wo befindet sich wohl der Graue Weiher, an dem die Kate der Mordbuben liegen soll?“
„Es ist nicht weit von hier gelegen, am nördlichen Ende des Sees hinter dem Schilfgürtel. Aber Sie sollten nicht dorthin gehen, Herr van Mechow. Es ist kein guter Ort. Niemand war jemals wieder dort. Alle machen einen großen Bogen um den See. Es heißt, dass dort nicht einmal Vögel brüten.“
Van Mechow winkte ab:
„Seien Sie beruhigt. Ich bin ein Mann der Wissenschaft, nicht des Hokuspokus.“
Der alte Förster war sichtlich erleichtert, und später, als infolge zugesprochenem Alkohols kaum einer der Herrschaften noch in der Lage war, einen Fuß gerade vor den anderen zu setzen, verabschiedeten sie sich herzlich voneinander und zogen sich in ihre Schlafräume des Forsthauses zurück.
Am nächsten Morgen erwachte van Mechow früh. Die Kutsche zur Bahnstation in Milmersdorf würde nicht vor Mittag eintreffen, und so konnte er doch, entgegen seiner Worte des Vorabends, seiner Neugier nicht widerstehen. Ohne zu wissen, was ihn in der sicherlich längst verfallenen Kate der Wilderer erwarten sollte, so er sie überhaupt entdecken sollte, begab er sich auf den Weg.
Die Sonne schob sich schnell am Himmel aufwärts, ihm wurde warm. Zwischen duftenden Kiefern hindurch führte ihn sein Weg am Ufer entlang eines breiten Gürtels aus mannshohem Schilfgras, das gelegentlich von modrigen Stegen durchbrochen war. Schmal und schwarz streckte sich der Lübbesee vor ihm aus. Sein Wasser hatte die Wiesen aufgeweicht, leise gurgelte es unter seinen Schritten.
Mücken ließen sich auf van Mechow nieder und versenkten ihre Stachel in seiner Haut. Über ihm in den Spitzen des Röhrichts wippten Rohrkolben im Spiel der Windböen, umschwirrt von Libellen. Bachstelzen und Kiebitze riefen ihm, aufgebracht ob der Störung und unsichtbar im Dickicht, ihre Beschimpfungen zu, eine aufgescheuchte Blässralle schrie ihn wütend an, verfolgt von einer verwirrten Schar zerzauster Küken, schnell verschwand sie mit ihrer Brut im Gewuchs von Binsen, Schwertlilien und Kalmus. Frösche glitten glucksend von Seerosenblättern. Einige Male war ihm, als sei hinter ihm ein Geräusch zu vernehmen, ein Knacken von Zweigen, das zarte Rascheln alter Blätter. Doch wenn er innehielt, so war nichts mehr zu hören. Also ging er weiter, bis er die nördliche Spitze des Sees erreicht hatte.
So lange er auch jenseits des Schilfs suchte, er konnte keine Kate entdecken. Also zwängte er sich weiter durch das Unterholz, das in eine Senke führte, und als er wieder besser voraus schreiten konnte, strich plötzlich etwas vor ihm über den Weg, kaum mehr als ein Schemen. Es berührte ihn kalt an der Brust und van Mechow erschrak heftig. Er geriet ins Stolpern, hielt sich an einem jungen Trieb fest, der nachgab und ihn stürzen ließ. Er rollte die Senke hinab und schlug hart mit dem Kopf auf.
Als van Mechow wieder zu Bewusstsein gelangte, bemerkte er, dass er in einem Geviert fast verrotteter Balken lag, umgeben von totem Schilf, das wohl einmal zu Reetgarben gebunden war. Sein Kopf war gegen einen Stein geschlagen, seine Stirn blutete. Als er den Stein wegrollte, griffen seine Finger in eine graue Masse zerfaserten Papiers inmitten roten Leders. Van Mechow sprang auf und rannte zum Forsthaus zurück.
Man verband seinen Kopf. Später brachte ihn der Kutscher zum Bahnhof. Gegen Abend erreichte er sein Zuhause. Seine Frau erschrak ob der Kopfverletzung, doch van Mechow winkte nur erschöpft ab und ging zu Bett. Am nächsten Morgen schauten die Kinder in das elterliche Schlafzimmer, um sich nach dem Befinden des werten Herrn Vaters zu erkundigen, doch van Mechow wachte nicht mehr auf. Einige Tage später ließ seine Witwe eine Traueranzeige veröffentlichen, und sie entschied sich für einen Bibelvers aus dem zweiten Buch Mose, Kapitel 23, Vers 20:
„Ich aber will einen Engel vor dir einhergehen lassen um dich unterwegs in meine Hut zu nehmen und dich an die Stätte zu bringen, die ich festgesetzt habe.“
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(Beitrag zum Erostepost-Literaturpreis 2017, Salzburg, Thema „Jenseits von Gut und Böse“)