Eine Hitze zu Johannis

„Na, Papa, wie gefällt’s dir hier?“
„Scheiße.“
„Wir haben doch lange und breit darüber gesprochen. Es ist die beste Lösung.“
„Für dich vielleicht.“
Vater und Sohn trinken Kaffee im Aufenthaltsraum des St. Vincentius Altenheims und schauen sich um. Ein Dutzend Tische, an denen Weißhaarige allein oder in Grüppchen hocken. Das Panoramafenster zeigt märkische Kiefernweiten unter dem Blau des Junihimmels. Trockengestecke an orangefarbenen Wänden zwischen aufgeklebtem Fachwerk. Das Summen einiger Ventilatoren, die die Sommerhitze verschieben. Kakteen und Orchideen auf den Fensterbänken. Es riecht nach Eau de Cologne und Desinfektion.
Der Vater verdreht die Augen:
„Alles alte Säcke hier.“
„Mit 87 Jahren bist du selbst ein alter Sack.“
„Sack, ja. Aber nicht alt.“
„Ein Riesenglück, dass nicht mehr passiert ist bei deinen Stürzen. Es ist das Beste, glaub mir. Hier kann ich dich oft besuchen. Und schau mal, die machen alle einen ganz vergnügten Eindruck.“
„Sehen aus, als warten sie auf den Abdecker.“
„Papa!“
„Ist doch wahr.“
„Da hinten spielen sie Brettspiele. Und da drüben wird gebastelt. Und dort ist sogar eine Bibliothek mit Sesseln, sieht doch ganz gemütlich aus.“
„Ein schöner Platz zum Sterben.“
„Ach was, du wirst dich daran gewöhnen.“
Der Blick des Sohnes wandert über die Senioren an ihren Tischen.
„Mit wem möchtest du denn mal näher bekannt werden?“
„Am liebsten mit der Schwester.“
Der Vater betrachtet wohlgefällig die Pflegekraft, die einen Heimbewohner im Rollstuhl an einen der Tische schiebt. Sie mag um die 40 Jahre alt sein, vielleicht auch etwas älter, schlank, mit einem hübschen Gesicht und blondierten Locken. Quer durch den Raum ruft er ihr zu, so dass alle Gespräche verstummen:
„Wie heißen Sie, schönes Kind?“
Lächelnd dreht sie sich nach ihm um.
„Ich bin Jutta. Und wer sind Sie, schöner Mann?“
Er deutet im Sitzen eine Verbeugung an.
„Ich bin Hans, Ihr neuer Verehrer, wenn Sie gestatten!“
Sie zwinkert ihm zu.
„Ich gestatte es, Hans.“
Er wirft ihr eine Kusshand zu. Sie kichert und widmet sich wieder ihrer Arbeit.
Der Sohn mustert seinen Beifall heischenden Vater und meint:
„Ich wusste gar nicht, dass du so peinlich sein kannst, Papa.“
„Ach was. Das ist genau meine Kragenweite.“
„Vielleicht damals nach dem Krieg.“
„Nicht frech werden, Junge.“
„Wie soll das gehen? Willst du ihr den Hof machen? Und wenn sie schon einen Mann hat?“
„Weißt du, was dein Problem ist, mein Sohn? Du denkst zu viel. Hast Angst vor den Weibern. Dabei wäre das genau die Richtige für dich. Vom Alter her passt es und vom Aussehen her sowieso. Die ist nicht so spinnert und blutleer wie dein letzter Blaustrumpf.“
„Ich habe keine Angst vor Frauen.“
„Doch. Deshalb ist auch deine Ehe gescheitert. Aber die beißen nicht, die wollen nur spielen. Das ist wie bei der Jagd. Folge deiner Flinte. Aber drück’ nicht zu früh ab, das mögen die Ladies nicht.“
„Danke, Papa, bitte keine Details.“
So sitzt der Sohn noch eine Weile bei seinem Vater. Später bringt er den Vater auf das Zimmer und verabschiedet sich dort.
„Mach’s gut, Papa. Und mach keinen Blödsinn.“
„Mach ich nie.“
„Ich besuche dich am nächsten Wochenende.“
„Ist gut.“
Der Vater hält seinem Sohn die Wange hin. Ein Kuss und ein Tschüss.

Sein Sohn versteht ihn nicht. Hat ihn noch nie verstanden. Aber vielleicht muss das so sein. Kinder sollten nicht zu viel über ihre Eltern wissen. Was hatte er von seinen Eltern gewusst? Und was wusste sein Sohn von ihm und der Mutter? Seine Ehe war ein Missverständnis gewesen bis zu ihrem Tod vor einigen Jahren. Ganz am Anfang, in den frühen Jahren, hatten sie noch Spaß aneinander gehabt. Er wohl immer etwas mehr als sie. Spät war sie schwanger geworden. Nach der Geburt des Sohnes hatte sie das Interesse an diesem Körperlichen, wie sie es nannte, gänzlich verloren. Mein Kind habe ich jetzt, sagte sie, mehr brauche ich nicht, geh halt kalt duschen. Manchmal, wenn er gar zu sehr drängte – Mariechen, ganz einschlafen lassen dürfen wir es nicht – , dann hatte sie ihm ihren Rücken zugedreht, das Nachthemd nach oben gestreift und gewartet, bis er fertig war. Wie unfroh, wie sinnenlos.
Schon bald hatte er sich nach anderen Frauen umgeschaut und beherzt zugegriffen, immer wieder. Und doch, sie alle konnten, wie die Mutter seines Sohnes, nicht mithalten mit seiner Jugendliebe. Elsa. Damals, in seiner Jugend, war alles so anders gewesen, so leicht, so stürmend, so überschäumend. Sie hatten Kondome aus Wehrmachtsbeständen benutzt, die er irgendwo stibitzt hatte, und es war ein Wunder, dass sie nicht schwanger geworden war, so oft, wie beide die Hitze zwischen den Beinen überkam. Gesungen hatte er für sie, als sie einmal danach am Belzower See lagen, an dieser nur ihnen bekannten Stelle zwischen Föhren und Eichen. Und während seine forsche Hand über ihre Beine geglitten war, von unten bis ganz nach oben, wo sie in der Beuge verharrte, hatte er einen Schlager von Siegfried Arno gesungen, „Wenn die Elisabeth nicht so schöne Beine hätt‘, hätt’se viel mehr Freud an dem neuen langen Kleid. Doch da sie Beine hat, tadellos und kerzengrad, tut es ihr so leid um das alte kurze Kleid … “ Und sie hatte gelacht und ihm einen Klaps auf seine Hand gegeben, und als er sie wegzog, hatte sie seine Hand wieder zurückgelegt, und dann waren sie noch etwas länger am See geblieben, bis die Sonne längst untergegangen war.

 „Und, hast du dich gut eingelebt, Papa?“
„Na ja.“
„Tut mir leid, dass ich es am letzten Wochenende nicht geschafft habe. Es war viel zu tun in der Firma. Und es ist ein ordentlicher Weg aus Berlin hierher.“
„Macht nichts.“
Vater und Sohn sitzen im Aufenthaltsraum des Altenheims. Der Sohn rührt in seinem Kaffee:
„Wie ist das Essen hier?“
„Besser als mit einem schmutzigen Stock ins Auge.“
„Hauptsache, du wirst satt. Soll ich dir irgendwas Bestimmtes mitbringen? In deinem Kühlschrank zuhause war immer alles vergammelt. Irgendwann hättest du dich selbst vergiftet.“
Schwester Jutta tritt zu ihnen an den Tisch. Zur Überraschung des Sohnes legt der Vater wie selbstverständlich seinen Arm um die Hüfte der jungen Frau. Und zum ersten Mal seit langem lächelt er.
„Darf ich Dir Jutta vorstellen?“
„Wir kennen uns doch bereits“, sagt der Sohn, „Zumindest flüchtig. Vom letzten Besuch.“
Jutta und der Sohn geben sich die Hand und wechseln einige Belanglosigkeiten. Sie ist wirklich attraktiv, denkt der Sohn. Was will sie von meinem Vater? Später, als Jutta gegangen ist, fragt sein Vater:
„Wäre das nicht etwas für dich? Sie hat gerade keinen Mann. Ihr Freund hat sie vor einigen Monaten verlassen. Was für ein Idiot.“
Und der Sohn hört gar nicht richtig zu, weil er gerade an etwas Anderes denkt, und er fragt:
„Gibst du ihr Geld dafür?“
Das Gesicht des Alten versteinert, dann sagt er:
„Es wird Zeit, dass du gehst.“
„Es tut mir leid, ich habe es nicht so gemeint. Ich mache mir nur Sorgen.“
„Ich weiß schon, wie es gemeint war.“
Es ist nichts mehr zu sagen. Beim Abschied hält der Vater seinem Sohn nicht die Wange hin. Kein Kuss, nur ein Tschüss.

Als ob er jemals eine Frau für Gefälligkeiten bezahlt hätte! Immer waren sie freiwillig zu ihm gekommen, und immer waren sie gerne bei ihm geblieben. Mangel hatte er nie gelitten. Und Elsa, ja, die hätte er sofort geheiratet. Er hatte schon Pläne geschmiedet. Gleich nach seiner Ausbildung hätte er um ihre Hand angehalten. Ihr Alter hätte schon irgendwann ja gesagt, der mochte ihn doch, auch wenn Hans ihm gar zu sehr um die kostbare Tochter herum scharwenzelte. Hau ab, du Nichtsnutz, hatte er gerufen, aber der Tonfall hatte gestimmt. Und dann war sie tot, weil ein betrunkener Lastwagenfahrer sie und ihr Fahrrad übersah. Einfach so, weg für immer. Deshalb hatte er nicht ihre Hand gehalten, sondern nur eine Blume, die er in ihr Grab geworfen hatte. 1947 war das gewesen. Nie wieder seinen Kopf neben den ihren betten. Nie wieder gemeinsam im Himmel die Wolken verfolgen. Nie wieder ihre Lippen küssen. Nie wieder die Sommersprossen zwischen ihren Augen zählen. Nie wieder ihr Kichern hören, während er sich an den Knöpfen ihrer Bluse abmüht. Nie wieder ihre Brüste berühren. Nie wieder bei ihr in ihr sein. Nie wieder ihren Geruch in seinen Hemden finden.

„Guten Tag, hier ist das St. Vincentius Seniorenstift, spreche ich mit dem Sohn von Herrn Reisinger?“
„Am Apparat.“
„Ihr Vater ist verschwunden.“
„Wie bitte?“
„Er ist heute Morgen nicht in seinem Zimmer gewesen, als wir ihn wecken wollten. Bisher ist er noch nicht zurückgekehrt. Wir sind ja keine geschlossene Einrichtung, Ihr Vater ist ein freier Mann. Aber wir dachten uns, dass Sie das wissen sollten.“
„Hat er keine Nachricht hinterlassen?“
„Leider nein. Aber eventuell gibt es einen Zusammenhang mit dem Fernbleiben einer Kollegin. Sie ist heute nicht zur Arbeit erschienen und hat sich nicht bei uns abgemeldet. Ihr Vater hat wohl Interesse an ihr gezeigt, sie wurden öfter miteinander gesehen.“
„Jutta?“
„Sie wissen davon?“
„Eigentlich nicht.“
„Wir können Jutta gerade nicht erreichen. Wenn Sie etwas von Ihrem Vater hören, informieren Sie uns bitte? Wir halten Sie selbstverständlich ebenfalls auf dem Laufenden.“

Weil er für sie gesungen hatte, damals am Belzower See, hatte sie ihn ihren Troubadour genannt. Und auch für seinen Gesang hatte sie ihn geliebt. Wusste sein Sohn eigentlich, welche Macht eine schöne Stimme auf Frauen ausübt? Später hatte sie mit einem Kohlestift auf seinen Rücken geschrieben, was sie gerade in einem Buch gelesen hatte. Omnia vincit amor – Liebe besiegt alles. Er hatte es empfunden wie einen Schwur, und obwohl das Wasser des Sees die Buchstaben bald fortgespült hatte, spürte er die Lettern zwischen seinen Schulterblättern bis zum heutigen Tag.

Jetzt sind sie am Belzower See angelangt. Ein Flirren und Surren über dem Wasser in der Schwüle des Nachmittags. Sie stehen genau an der Stelle, die vor mehr als sieben Jahrzehnten nur er und Elsa teilten. Er kannte hier noch jeden Stein am Weg, den Pfad zwischen den hohen Bäumen hatte er sofort gefunden. Am Ende zwischen einigen Büschen hindurch, hin zum Wasser, wo noch immer dieses Fleckchen Gras wuchs, dem die Zeit nichts hatte anhaben können.
„Ich danke dir, dass du mich hierhergebracht hast, Jutta.“
„Hab ich gerne gemacht. Und ich will kein Geld von dir. Das wollte ich noch nie.“
„Aber so hatten wir es vereinbart.“
„Nein, so hattest du es gewünscht.“
„Aber du riskierst viel. Du könntest deinen Job verlieren.“
„Das glaube ich nicht.“
„Und du erinnerst dich, dass ich noch einen anderen Wunsch habe? Und du willst trotzdem kein Geld?“
„Jetzt rede nicht mehr von Geld. Ich tue es für dich und für mich.“
Sie beginnt anmutig, ihre Kleider abzustreifen. Er tut es ihr nach, und sie hilft ihm dabei. Beide legen sich auf das Gras und er bettet seinen Kopf neben den ihren. Gemeinsam verfolgen sie die Wolken im Himmel. Dann richtet er sich auf, stützt sich auf seinen Ellenbogen und betrachtet sie. Während sein Blick über ihren prachtvollen Körper wandert, sagt er:
„Du bist so jung und ich bin so alt.“
„Du bist jünger als mein letzter Freund, und der war achtunddreißig.“
„Achtunddreißig? Mein Gott, wenn ich noch einmal so jung wäre, würde ich dich tagelang vögeln.“
Er schaut in seinen Schoß und meint bedauernd:
„Der liebe Gott hat mir das Können genommen. Jetzt soll er mir auch das Wollen nehmen.“
Und während seine zitternde Hand über ihre Beine gleitet, von unten bis ganz nach oben, wo sie in der Beuge verharrt, streichelt sie ihn, bis sie überrascht kichert und in sein Ohr flüstert:
„Mir scheint, der liebe Gott erweist dir und mir gerade eine Gunst … “

Jutta ist eingeschlafen. Und auch er selbst ist plötzlich so müde geworden, natürlich, nach all der Aufregung, der Hitze zu Johannis. Als er selbst fast eingeschlafen ist, ruft plötzlich jemand seinen Namen. Er schreckt hoch und sieht Elsa im Wasser, die ihm fröhlich zuwinkt. So jung und so hübsch. Und während er noch gebannt zu ihr schaut, ruft sie: Na, was ist? Kommst du noch ins Wasser, du Nichtsnutz, oder kannst du nicht schwimmen? Mit der Hand schlägt sie ins Wasser und spritzt eine Fontäne in seine Richtung. Er springt auf und droht ihr lachend mit der Faust: Na warte, du Früchtchen, wenn ich dich kriege, dann werde ich dich ordentlich tauchen, du, und er hechtet mit einem kühnen Kopfsprung ins Wasser hinein, schwimmt in kräftigen Zügen zu ihr und umarmt sie. Sie küssen sich, versinken im gurgelnden Wasser und das Licht des Abends schmilzt in Wellen aus Silber, die über ihm zusammenschlagen.

„Guten Tag, spreche ich mit dem Sohn von Hans Reisinger?“
„Ja.“
„Hier ist Jutta.“
„Ich weiß.“
„Es tut mir so leid, was passiert ist.“
„Ja.“
„Wir waren am See und ich war nur kurz eingeschlafen. Als ich erwachte, lag er im Wasser. Dabei hatte er mir versprochen, nicht hinein zu gehen. Ich brachte ihn zurück ans Ufer. Ich konnte ihm nicht mehr helfen. Auch der Notarzt konnte nichts mehr für ihn tun. Das Herz, meinte er.“
„Ja. Die Obduktion hat es bestätigt.“
Jutta zögert.
„Er hat viel erzählt. Und er hat viel von Ihnen gesprochen. Er muss sie sehr geliebt haben.“
„Ich war sein einziges Kind.“
„Ihr Vater hat mich gebeten, mich Elsa nennen zu dürfen. Wegen seiner großen Liebe in seiner Jugend. Sie hieß Elsa. Wussten Sie davon?“
„Nein.“
„Wenn Sie möchten, erzähle ich Ihnen mehr von Ihrem Vater. Es war sein Wunsch. Wir könnten uns treffen.“
Der Sohn zögert kurz und sagt dann:
„Ja, Jutta, das können wir gerne tun.“

 

***

 

(Veröffentlichung in der Anthologie zum Berliner Literaturpreis “Wortrandale 2019”, Thema “Wenn im Norden das Licht schmilzt”)

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