Erzählt sei die Geschichte des jungen Arztes Maximilian van Mechow, der am 23. September 1891 in der Pathologie der Berliner Charité eine dem Befund nach unerklärliche innere Leichenschau durchführte.
Van Mechow obduzierte den Körper eines Wilddiebs und Mörders, der kurz zuvor im Landarbeits- auch Zucht- und Irrenhaus von Altstrelitz verstorben war. Wie dem Bericht des überstellenden Gefängnisarztes zu entnehmen war, sei der Wilderer Hanke plötzlich während des Hofgangs zusammengebrochen und habe, die Hände in seine Nierengegend gepresst, derart vor Schmerzen geschrien, dass man zunächst an ein gespaltenes Gemüt gedacht habe. Später, als die Kräfte ihn verließen, habe Hanke, bezeugt von zwei Wärtern, Verse in einer nicht verständlichen Sprache gemurmelt. Gleichzeitig habe Hanke begonnen, stark aus den Augen zu bluten.
Wohl an dem Blutverlust, vielleicht aber auch durch verborgene Geschehnisse in corpore, sei er schließlich am gleichen Tage in der Abendzeit verstorben. Man sei zwar aufgrund der Insassen des eigenen Hauses mit den Abwegigkeiten menschlichen Irrsinns hinreichend vertraut, doch sei der Fall insgesamt so ungewöhnlich, dass man nun um die profunde Expertise der Doctoren und Excellenzen des Königlichen Charité-Krankenhauses zu Berlin bat, dies umso mehr, da einige Wochen zuvor auf nahezu identische Weise das Leben des Wilderers Schwarz geendet hatte, dem Spießgesellen Hankes. Dieser habe ebenfalls und aufgrund des gleichen Deliktes – dem gemeinschaftlich begangenen Mord an Hegemeister Breuker aus der Herzoglichen Domäne Teschendorf, so geschehen im Sommer 1886 am Wanzkaer See westlich von Blankensee – in selbigem Altstrelitzer Zuchthaus eingesessen. Der Wilderer Schwarz sei schon beerdigt worden, doch der zweite Todesfall in nunmehr kurzer Zeit habe zu großer Nervosität im Zuchthaus geführt. Umso dringlicher und unter Versicherung des allerhöchsten Respekts gegenüber den Ärzten aus der Reichshauptstadt sei das Ansinnen um kollegiale Unterstützung zu verstehen, von der man sich eine medizinische Erklärung erhoffte.
Van Mechow vermutete aufgrund der gelblich braunen Haut des Toten ein Versagen der Nieren. Er öffnete den Leib und durchtrennte mit einer Säge Brustbein und Rippen. Mit großer Sorgfalt entnahm er die inneren Organe sowie die großen Gefäße und betrachtete sie. Der Befund war in toto unauffällig, bis er zu den Nieren vordrang und erschrak. Er rief seine Kollegen, die in die Bauchhöhle des Wilderers schauten und sich bekreuzigten. Die Nieren des Wilderers waren verbrannt. Kohleartig trocken und schwarz staubend zerfielen sie unter den behutsamen Händen van Mechows.
Später öffnete van Mechow den Schädel des Verstorbenen und stellte fest, dass der Sehnerv von der Netzhaut abgetrennt war, als sei er mit stumpfer Kraft abgerissen worden. Der Glaskörper selbst war jedoch unversehrt geblieben, ebenso die sie umgebende Uvea und die Tunica interna bulbi.
Van Mechow, von gesegneter Nervenstärke und nicht übermäßig von den vielfältigen Abgründen menschlichen Sterbens erschüttert, verfasste ein Schreiben an den zuständigen Arzt des Landarbeits- auch Zucht- und Irrenhauses von Altstrelitz, das aufgrund des darin festgehaltenen erratischen Befundes solcherart Wellen schlug, dass das Documentum schließlich sogar den Weg auf den Schreibtisch seines obersten Dienstherrn, Rudolf Virchow, fand. Dieser bat persönlich noch einmal um einen Vortrag der sonderbaren Ergebnisse und ließ später die derart auffälligen Präparate – zwei von innen heraus zerstörte Nervi optici und zwei Briefchen Asche – seiner pathologisch-anatomischen Sammlung zuführen, wo sie bis zum heutigen Tage bestaunt werden können. Die inneren Verletzungen des Wilderers blieben unerklärlich.
Mehr als zwei Jahrzehnte später wurde van Mechow wieder an den seltsamen Tod des Wilderers erinnert, als er – mittlerweile zum ärztlichen Direktor einer Klinik in Potsdam berufen, glücklich verheiratet und mit fünf Kindern gesegnet – im September 1912 anlässlich einer Gesellschaftsjagd am Tollensesee verweilte. Obgleich seit Wochen von einem fiebrigen Infekt geplagt, hatte er sich dieses Jagdvergnügen am Wochenende nicht nehmen lassen wollen.
Man hatte eine fabelhafte Strecke von Rehen und Schwarzwild verblasen, und als man abends im Liepser Schlösschen zu Prillwitz in waidmännischer Eintracht und großer Runde zusammensaß, mit Treibern und Jägern bei einem deftigen Eintopf mit viel Einlage und dazu einem Selbstgebrautem, kam das Gespräch auf das Metier des Försters zu sprechen, der beständig gewahr sein müsse, seinem Erzfeind, dem Wilderer zu begegnen. Jeder wusste ein Schurkenstück zu berichten, und van Mechow dachte an den Wilderer, den er vor langer Zeit obduziert hatte. Ungute und überraschend klare Erinnerungen stiegen in ihm empor wie Fäulnisgase im Sumpf. Den Förster Uhland zu seiner Linken, einen gestandenen Reviermann mit klarem Blick, fragte er also:
„War es nicht hier in dieser Gegend, dass einmal ein Hegemeister namens Breuker zu Tode kam durch die Wilderer Hanke und Schwarz?“
Förster Uhland zuckte zusammen:
„Ja, in der Tat. Es ist sehr lange her. Und es ist erstaunlich, dass Sie sich noch daran erinnern. Breuker hatte den beiden damals schon lange nachgestellt, und deshalb brachten sie ihn um. Wie einige aus dem Dorfe berichteten, habe man in jener Nacht im Norden ein kaltes Licht aufblitzen sehen und es gleich für ein schlechtes Zeichen gehalten.“
„Es wird ein Wetterleuchten gewesen sein.“
„Aber es gab weit und breit kein Gewitter.“
Van Mechow winkte ab:
„Es sind Dörfler, gefangen in ihrem Aberglauben. Man sollte nicht zu viel hineinlesen. Wie genau kam Breuker zu Tode?“
„Aus dem Hinterhalt schossen sie ihm mit einem Drilling eine Ladung Schrot in die Nieren.“
Van Mechow beugte sich nach vorn:
„In die Nieren, sagen Sie? Das ist interessant. Wissen Sie, der Zufall wollte es, dass ich einen der beiden Mörder obduzierte. Daher ist mir der Fall vertraut. Hanke starb an vollends zerstörten Nieren. Auch Schwarz soll auf ähnliche Weise zu Tode gekommen sein.“
Förster Uhland winkte kaum überrascht ab:
„Nun, so ist es wohl die gerechte Strafe. Es waren rohe Gesellen. Wie die Tiere hausten sie in ihrer Kate im Wald, hier ganz in der Nähe. Gelegentlich tauchten sie in den Dörfern auf, drangsalierten die Bauern, stahlen Essen oder belästigten die Frauen. Notorische Verbrecher, das waren sie. In Groß Nemerow haben sie ein Hausmädchen auf obszöne Weise genötigt und fast zu Tode gewürgt, dabei war es noch ein Kind. In Stargard nagelten sie junge Katzen an einen Staketenzaun. Den Pastor von Möllenbeck knüppelten sie nieder. Seine Ziegen und Hühner haben sie erschlagen, aus purer Lust am Töten.“
„Warum hat sich niemand dagegen gewehrt?“
Der Förster schwieg eine Weile, das Thema schien ihm nicht zu behagen. Van Mechow beschloss, nicht zu insistieren, doch Förster Uhland meinte schließlich:
„Es ist schon lange her. Die Menschen hatten Angst. Und sie haben noch immer Angst.“
„Wovor? Hanke und Schwarz sind längst tot.“
Förster Uhland schaute van Mechow mit prüfendem Blick in die Augen:
„Der Hanke behauptete damals, er sei im Besitz des sechsten und siebenten Buches Mosis.“
„Tatsächlich?“
Van Mechow verzog belustigt das Gesicht. Von dem Buch hatte er schon einmal zu seinen Studienzeiten gehört. Es galt als ein verrufenes Grimoire okkulter Sprüche, als kabbalistisches Vielerlei und satanisches Traktat, als eine entfesselte Magie der Worte. Aus dem Mittelalter sollte es stammen, doch es könnte angeblich noch viel älter sein, vielleicht stamme es gar aus den Papyri Graecae Magicae des vierten Jahrhunderts. Damals, im akademischen Circulum, hatte es geheißen, mit dem Buch könne man Krankheiten heilen, Frauen schwängern, Wolllust wecken und Feinde verfluchen.
Förster Uhland war nicht entgangen, dass der Doktor aus Potsdam amüsiert war, doch er blieb ernst:
„Es gibt niemanden mehr bei uns im Dorfe, der darüber lacht, Herr van Mechow.“
„Verzeihen Sie, ich wollte nicht respektlos erscheinen.“
„Fritz Breuker, der Sohn des alten Hegemeisters, hat endlich als junger Forstanwärter die Mörder seines Vaters im Ziemenbachtal verhaften können.“
„Und so kamen die beiden ins Zuchthaus von Altstrelitz.“
„So ist es. Allerdings erzählt man sich, dass der junge Breuker über das allzu milde Urteil des Güstrower Schwurgerichts sehr erbost war. Die Hinrichtung mit dem Beil hatte er den Mördern seines Vaters sprichwörtlich an den Hals gewünscht. Doch die beiden Verbrecher beriefen sich darauf, dass sich der Schuss versehentlich gelöst habe.“
„Was geschah dann?“
„Ich weiß nicht recht, ob es gottgefällig ist, über solche Dinge zu sprechen.“
„Ich bitte Sie, erzählen Sie!“
Förster Uhland stürzte sein Glas, winkte der Bedienung für ein Neues, schaute den Arzt aus Potsdam lange an und seufzte schließlich:
„Dort, wo es an Ausleuchtung mangelt, sprießen Fragen wie Pilze in einer feuchten Sommernacht, nicht wahr? So will ich Ihnen etwas Helligkeit verschaffen, auch wenn nicht alle Geschehnisse rund um den abscheulichen Mord am Hegemeister restlos aufgeklärt werden konnten. Viel Hörensagen ist dabei.“
„Nun, Gerüchte haben oft einen wahren Kern.“
Förster Uhland nickte nachdenklich:
„Man erzählt sich, dass Fritz Breuker dem Hanke das sechste Buch Mosis abgenommen hat, welches dieser in seiner Tasche bei sich trug. Auch wir haben natürlich vom seltsamen Sterben der Förstermörder im Altstrelitzer Zuchthaus gehört. Bei uns im Dorf denkt seit diesen Tagen jeder, dass der junge Breuker sich in den alten Sprüchen versucht hatte.“
Der Förster senkte die Stimme:
„Angeblich hat ihm der alte Apotheker aus Punschendörp geholfen, die Zutaten für einen Zauber zu besorgen. Im Gegenzug hat ihm der Fritz wohl versprochen, dass er ihn mithilfe des Buches von der Französischen Krankheit befreien könne.“
„Von der Lues? Wie soll er das angestellt haben? Das ist schlicht unmöglich.“
Jetzt flüsterte der Förster nur noch, obwohl niemand ihrer Konversation folgte, im Gegenteil, die Umsitzenden am Tisch stimmten in prächtiger Laune ein Loblied auf den Heiligen Hubertus an, so dass van Mechow die Worte des Alten kaum verstand:
„Man muss sich eingraben. Bis zum Hals muss man nackt und eine Nacht lang in Pferdeäpfeln stehen.“
„Und dann?“
„Dann, heißt es, sei es eine Angelegenheit bedacht gewählter Worte. Worte, die in eben jenen Büchern stehen.“
„Aha.“ Van Mechow schwieg, wider Willen beeindruckt. Weil die Neugier in ihm zu stark war, fragte er:
„Hat das Sprüchlein beim Apotheker gewirkt?“
Förster Uhland kratzte sich am Bart:
„Vielleicht. Sie wissen ja, man erzählt sich vieles. Angeblich zeugte er noch im hohen Alter ein Kind mit der buckligen Magd des Nachbarn, gepriesen als Wunder des späten Augustsaftes, und das klaffende Syphilitenloch auf seinem Nasenrücken sei verschwunden.“
„Das ist mehr als erstaunlich! Man müsste ihn der Charité vorstellen!“
„Er lebt nicht mehr, er starb vor einigen Jahren.“
„Und der junge Breuker?“
„Auch er ist tot.“
„Woran starb er?“
„Vielleicht an seinen eigenen Versen? Sei er gewiss, ich bin selbst kein abergläubischer Mensch. Auch meine Mutter war es zeit ihres Lebens nie. Doch sie sagte mir, dass dies ein Buch ist, das man nicht anfassen sollte. An diesem Buch sei nichts Gutes, und wer die Schöpfung versucht, wer namenlose Kräfte weckt, in dem er sie beschwört, muss immer damit rechnen, dass die Kräfte sich gegen den Recitator der Formeln selbst richten, sofern sie nicht mit genügender Inbrunst und einer tiefen Verkommenheit der Seele ausgestoßen werden.“
„Was ist mit dem jungen Breuker geschehen?“
„Er hat sich vor neun Jahren umgebracht. Jahrelang bekamen er und seine Frau keine Kinder, obwohl sie sich sehnlichst eines wünschten. Dann brachte seine Frau innerhalb von einem Jahr zwei Jungen tot zur Welt, denen die Köpfe fehlten. Breuker erschoss sich mit der Jagdwaffe seines Vaters.“
„Hat man denn das sechste und siebente Buch Mose bei ihm gefunden?“
„Ja. Ein zerlesenes Pamphlet voll wüster Kritzeleien, Rezepturen und Verse, gebunden in rotes Leder. Es war nur der erste Teil vorhanden, also das sechste Buch. Ein Knecht, der es mit seinen Fingern berührte, erlitt eine Blutvergiftung in der Hand.“
„Das wird ein Zufall gewesen sein. Die Sepsis ist die Berufskrankheit der Knechte wie der Gerber. Gibt es das Buch noch?“
„Nein. Wir trugen es mit einer Schaufel in den Kirchhof und verbrannten es dort.“
Van Mechow war gebannt von den Schilderungen, die seinem Streben nach der Vernunft aller Dinge zuwider liefen:
„Und das siebente Buch Mosis? Wo ist es verblieben?“
Förster Uhland hob abwehrend die Hand:
„Befassen Sie sich nicht damit. Es wird Ihnen kein Glück bringen. Niemandem hat es Glück gebracht.“
„Hat man das fehlende Buch gefunden?“
„Nein. Es hat auch niemand danach gesucht.“
„Wo genau befindet sich denn die Kate der Mordbuben? Sie sagten, es sei hier ganz in der Nähe gewesen?“
„Ihr Unterschlupf ist nicht weit von hier gelegen, gerade gegenüber von hier über die Lieps hinweg auf der Halbinsel Nonnenhof am Nordufer, wohl am Bacherswall. Aber Sie sollten nicht dorthin gehen, Herr van Mechow. Es ist kein guter Ort. Unweit liegen die Gräulichen Gruben, wo man früher die Pesttoten ablud. Und angeblich stand dort vor ewigen Zeiten Riedegost, die Tempelburg der Slawen. Es soll dort spuken. Es heißt, dass dort nicht einmal Vögel brüten.“
Van Mechow winkte ab:
„Seien Sie beruhigt. Ich bin ein Mann der Wissenschaft, nicht des Hokuspokus.“
Der alte Förster war erleichtert, und später, als infolge zugesprochenen Alkohols die Herrschaften müde wurden, verabschiedeten sie sich voneinander und zogen sich in ihre Schlafräume des Schlösschens zurück.
Am nächsten Morgen erwachte van Mechow früh. Die Kutsche zur Bahnstation in Blankensee würde nicht vor Mittag eintreffen, und so konnte er doch, entgegen seiner Worte des Vorabends und entgegen seiner hartnäckigen Erkältung, der Neugier nicht widerstehen. Ohne zu wissen, was ihn in der sicherlich längst verfallenen Kate der Wilderer und Mörder erwarten sollte, so er sie überhaupt entdecken sollte, begab er sich auf den Weg.
Die Sonne schob sich schnell am Himmel aufwärts, ihm wurde warm. Auch merkte er jetzt wieder das leichte Fieber seines Katarrhs, das ihn nicht loslassen wollte, so dass er zu schwitzen begann. Zwischen Kiefern hindurch führte ihn sein Weg am Ufer entlang eines Gürtels aus mannshohem Schilfgras, das gelegentlich von modrigen Stegen durchbrochen war. Im Rund breitete sich die Lieps vor ihm aus, das Inselchen Kietzwerder zu seiner Rechten ließ er schnell hinter sich. Die Wiesen waren aufgeweicht, leise gurgelte es unter seinen Schritten.
Mücken ließen sich auf van Mechow nieder und versenkten ihre Stachel in seiner Haut. Über ihm in den Spitzen des Röhrichts wippten Rohrkolben im Spiel der Windböen, umschwirrt von Libellen. Bachstelzen und Kiebitze riefen ihm, aufgebracht ob der Störung und unsichtbar im Dickicht, ihre Beschimpfungen zu, eine aufgescheuchte Blässralle schrie ihn wütend an, verfolgt von einer Schar zerzauster Küken, schnell verschwand sie mit ihrer Brut in Binsen, Schwertlilien und Kalmus. Frösche glitten glucksend von Seerosenblättern. Einige Male war ihm, als sei hinter ihm ein Geräusch zu vernehmen, ein Knacken von Zweigen, das Rascheln alter Blätter. Doch wenn er innehielt, so war nichts mehr zu hören. Also ging er weiter, bis er den Alten Graben erreichte, hinter dem sich die bewaldete Halbinsel anschloss. An einer seichten Stelle überquerte er den Graben und wanderte am Ufersaum entlang zur Spitze der bewaldeten Landzunge.
Doch so lange er auch jenseits des Schilfs suchte, er konnte keine Kate entdecken. Also zwängte er sich weiter durch das Unterholz, das nordwärts in eine Senke führte, und als er wieder besser voraus schreiten konnte, wurde es still. Vögel verstummten, sogar das Spiel der Wellen verlor sein Glucksen, und der Wind raschelte nicht mehr in den Blättern. Plötzlich fuhr zwischen den Blättern der Bäume hindurch ein gleißender Strahl in seine Augen und blendete ihn. Ihm war, als tropfe Licht schmelzend an den Zweigen herunter. Es fiel auf seine Schultern und wurde ihm zu einer Angst, die ohne Namen war. Etwas strich vor ihm über seinen Weg, kaum mehr als ein Schemen. Es berührte ihn eisig an der Brust und van Mechow erschrak heftig. Er geriet ins Stolpern, hielt sich an einem jungen Trieb fest, der nachgab und ihn stürzen ließ. Er rollte die Senke hinab und schlug hart mit dem Kopf auf.
Als van Mechow wieder zu Bewusstsein gelangte, bemerkte er, dass er in einem Geviert verrotteter Balken lag, umgeben von totem Schilf, das wohl einmal zu Reetgarben gebunden war. Sein Kopf war gegen einen Stein geschlagen, seine Stirn blutete. Als er den Stein wütend wegstieß, fasste er darunter in eine graue Masse zerfaserten Papiers inmitten roten Leders. Van Mechow sprang auf, wischte angeekelt seine Hand ab und rannte zum Forsthaus zurück. Dort verband man seinen Kopf. Später brachte ihn der Kutscher zum Bahnhof. Gegen Abend erreichte er sein Zuhause. Seine Frau erschrak ob der Kopfverletzung, doch van Mechow winkte nur erschöpft ab und ging zu Bett. Am nächsten Morgen schauten die Kinder in das elterliche Schlafzimmer, um nach dem Befinden des werten Herrn Vaters zu schauen, doch van Mechow wachte nicht mehr auf.
Man führte sein Ableben auf die allgemeine körperliche Überlastung und ein verschlepptes Lungenleiden zurück. Einige Tage später ließ seine Witwe eine Traueranzeige veröffentlichen, und sie entschied sich für einen Bibelvers aus dem zweiten Buch Mose, Kapitel 23, Vers 20: Ich aber will einen Engel vor dir einhergehen lassen um dich unterwegs in meine Hut zu nehmen und ich will dich mit einem Licht an die Stätte geleiten, die ich festgesetzt habe.
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(Publikumspreis beim Berliner Literaturpreis „Wortrandale 2019“, Thema „Wenn im Norden das Licht schmilzt“)